Das Kratzen

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Drei weitere, recht unspektakuläre und eintönige Tage gingen vorbei, in denen stets der übliche Tagesablauf stattfand: Thomas Altmann versuchte verzweifelt eine Lösung für Horsts Verschwinden zu finden, Anton Felder verweilte in seiner Manier, Markus Beck spaltete sich wieder von allen ab und ging des Öfteren im Freien spazieren und auch sonst ging jeder andere seinen banalen Aktivitäten nach. Der ganze Tumult, der sich vor einigen Tagen entwickelt hatte, schien so schnell gegangen zu sein, wie er gekommen war. Einige Male verließen die Kandidaten unter Felders Stockwerk das Haus, um Beeren oder Ähnliches zum Essen zu sammeln. Da die Wasserzufuhr immer noch tadellos funktionierte, ging keiner mehr davon aus, dass es Felder tatsächlich ernst gemeint hatte. Für einen nichtssagenden Schreihals hielten sie ihn, der nach Aufmerksamkeit gierte, und bei dem einige seiner Manipulationsversuche offenbar sogar wie durch ein Wunder Wirkung zeigten, was man an den paar Überläufern zu ihm und seiner kleinen Sekte feststellen konnte. Aber zu einer großen Gefahr konnte er laut den anderen Teilnehmern nicht werden.

Jedoch plagte die Kandidatin Mira etwas ganz Anderes. Ihr Zimmer teilte sich die junge, schwarze Frau mit der schönen Blondine Julia Hader. Es war eines der typischen Zimmer mit drei Betten, von denen zwei die beiden Damen beansprucht hatten. Für gewöhnlich schliefen die Zwei sehr schnell ein, doch seit dem Tag, an dem Felder seine Drohung ausgesprochen hatte, konnte Mira gar nicht gut in ihre Welt der Träume wandern. Nicht wegen Nervosität, Stress, zu viel Koffein oder sonstigem. Nein, wegen Angst. Nicht der Angst wegen dem wilden Sektenführer, der ein Stockwerk ober ihnen hauste, sondern wegen einem eigenartigen, bizarren Geräusch, das mitten in der Nacht mehrmals lautstark anfing zu lärmen und dann wieder blitzartig erlisch. Ein Kratzen war es, genau gesagt. So war auch wieder diese Nacht der Fall. Die junge Dame hatte sich schon längst ihr Schlafgewand angezogen, sich die Zähne geputzt und die übliche Abendtoilette hinter sich gebracht. Als sie vom Badezimmer wieder in das kleine Zimmer ging, entdeckte sie die bereits tief und fest schlafende Zimmergenossin Julia, die offensichtlich nichts von den Geräuschen der letzten Nächte mitbekommen hatte. Mira verhielt sich leise und nahm in ihrem warmen Bett Platz, stülpte sich die schützende Bettdecke über ihren Oberkörper und deaktivierte das hell-scheinende Licht der Nachttischschlampe. Danach schwelgte sie in Erinnerungen an ihr zivilisiertes Leben in der Großstadt Frankfurt. Das tat sie jedes Mal am Abend, da es ihr beim Einschlafen stets behilflich war. Wie dem auch sei, es verstrichen geschätzte vierzig Minuten, bis sie wieder dieses unangenehme Kratzen wahrnahm. Die Quelle jenes störenden Lautes war an der leeren Wand neben dem großen Kleiderschrank auszumachen. Es schien, als würde es von dem Nebenzimmer kommen, jedoch hatte Mira in letzter Zeit, falls das Geräusch auftrat, schon im nebenstehenden Nähzimmer nachgesehen und nichts entdecken können. Es müsste also nur einen hohlen Zwischenraum in der Wand geben, in der ein Nagetier oder etwas in der Art sein Unwesen trieb. Diese Möglichkeit klang für die junge Frau am Logischsten, jedoch hörte sich das Schürfen viel menschlicher an, als dass es von einem Säugetier hätte stammen können.

Es war in verschiedenen Abständen zu vernehmen. Die Intervalle, in denen es ruhig war, waren allerdings nur relativ kurz. Sobald ein Intermezzo endete, begann das Kratzen erneut und wurde um eine weitere Stufe lauter und aggressiver. Das war jedes Mal so, konnte sie feststellen. Anfangs war es immer noch ganz leise und kaum hören, doch desto tiefer es in die Nacht ging, desto wilder wurde es. Mira hielt sich die Ohren zu und versuchte, diesen Ton irgendwie zu ignorieren – zumindest versuchte sie es, wenngleich es eher bei dem Versuch blieb.

Nach drei Stunden, die sie nun hellwach da lag wegen dem Kratzen, war das Ritzen aus der Wand extrem turbulent und schwer zu überhören. Es wirkte so, als würde sich ein menschliches Wesen jenseits davon befinden und versuchen, auf alle Fälle in das innere von Miras Raum zu gelangen. Von Ruheintervallen war nun auch nicht mehr zu sprechen. Sie, die Kandidatin Mira, schwitzte schon längst Angstschweiß, den sie teils schon auf ihrer Stirn und in ihrer feuchten Hand spüren konnte. Es ist eine Schockstarre, die jeden in seinen Bann zieht, der sich in einer derartigen Situation befindet. Ähnlich wie eine Schlafparalyse ist man bedingt durch die Furcht so sehr gelähmt, dass man sich kaum oder gar nicht bewegen kann und nur darauf wartet, bis der Albtraum, der sich um einen herum abspielt, endlich sein endgültiges Ende findet. So ging es ihr schon seit diesen paar Stunden, und langsam wurde ihr bewusst, dass sie endlich agieren musste. Deswegen nahm sie schließlich ihren ganzen Mut zusammen, sprang vom Bett, lief hektisch zur schlafenden Julia und riss sie aus ihrem Schlaf. Bei der Aufweckung ging sie nicht sehr subtil vor, sondern rüttelte ihre Zimmergenossin wild, sodass diese alsbald aufwachen würde, was dann auch geschah.

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