Prolog

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Ich war sechs als mein Vater starb. Das ist kein schönes Alter, um jemanden zu verlieren. Zu alt, um sich nicht an ihn zu erinnern, aber zu jung, um damit umgehen zu können. Als wolle mich das Leben verspotten. Man kann seinen Vater noch kennenlernen, ein paar schöne Momente mit ihm verbringen, ihn ins Herz schließen... und Puff. Ist alles vorbei. Ich erinnere mich sehr gut an diesen Tag...

Das Klopfen hallte durch den leeren Flur wie Donner, so heftig hatte ich gegen die Tür geschlagen. Mein Herz flatterte vor Angst und heiße Tränen flossen mir über's Gesicht, als der alte Mann die Tür öffnete. Er sah mich bestürzt an.
»Luna?«
»Es wird schlimmer! Ich... Ich kann nichts dagegen tun, das Fieber steigt! Der Arzt sagt, jetzt kann ihm nur noch ein Wunder helfen.«
Ich zwang mich, das Weinen einzustellen. Es gab noch Hoffnung! Für Meister Fu waren Wunder ein Kinderspiel, er besaß immerhin gleich fünf. Er hatte mir genau erklärt, welche Gaben sie verliehen. Wayzz schenkte Weisheit und Schutz, Trixx gab Gerissenheit und Täuschung, Plagg und Tikki teilten sich die Macht von Erschaffung und Zerstörung. Und das Ambrosia der Bienenkönigin konnte heilen. Jedes Gebrechen, jede Wunde, jede Krankheit. »Hilf ihm!«, flehte ich den Meister an. »Bitte! Ich weiß, dass du es kannst!« Er ging in die Knie und sah mich ernst an. »Luna... Ich kann nicht. Es ist zu spät. Ihn in dieser Verfassung zu verwandeln würde ihn mit Sicherheit töten.«
»Dann verwandle mich! Ich kann Pollens Ambrosia kanalisieren, du hast mir erzählt, das ist schon früheren Königinnen gelungen!«
»Du bist zu jung, Luna. Und bis die Bindung zwischen dir und Pollen stark genug ist, könnten Jahre vergehen. Davor würde es dich zu sehr erschöpfen.«
Ich wich mit zitternden Knien zurück und schüttelte den Kopf.
»Ich schaffe das! Lass es mich versuchen! Bitte...«
Seine braunen Augen fixierten mich unbarmherzig mit diesem mitleidigen Blick. Mitleid würde meinen Vater nicht retten! Die Tränen kehrten mit aller Macht zurück, als Fu den Kopf schüttelte.
»Bitte! Gib mir nur eine Chance!«
Sein Blick wurde nur noch mitleidiger und mir wurde klar, dass er mir nicht helfen würde. Er... würde es nicht einmal versuchen. »Also lässt du ihn einfach im Stich?«, fragte ich mit zittriger Stimme, doch diesmal bebte sie vor Wut. »Du willst ihn sterben lassen?«
»Luna, ich...«
»Nein! Das ist nicht fair! Du kannst ihm helfen, aber du tust es nicht! Du... Du könntest ihn genauso gut einfach umbringen! Du bist ein Mörder!« Er wollte noch etwas sagen, aber ich war bereits davongerannt. Zu meinem Vater.
Er schlief, aber es war kein ruhiger Schlaf. Ächzend quälte er sich durch das Fieber und ich klammerte mich an seine Hand, wollte die Hoffnung nicht aufgeben, der Arzt könnte sich geirrt haben! Wir lebten in einem winzigen Dorf in China, die Ärzte hier waren nicht gerade erste Wahl. Bangend und betend wartete ich darauf, dass mein Vater die Augen öffnete, den ganzen Abend lang. Sieben Stunden saß ich neben seinem Bett und lauschte auf seine  schweren, schleppenden Atemzüge. Jeder klang schwächer als der letzte...
Bis sie verstummten.

Er war fort.

Und ich hatte nichts dagegen tun können.
Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen und schluchzte auf, während es draußen zu donnern begann. Nicht lange und es trommelten Regentropfen auf das Dach, durch die zugezogenen Vorhänge konnte ich Blitze zucken sehen. Irgendwann versiegten meine Tränen und japste nur noch hilflos nach Luft. Ich... ich hatte jetzt niemanden mehr. Meister Fu war nicht länger jemand, dem ich vertraute, und meine Mutter hatte ich nie kennengelernt. Sie war gegangen, irgendwohin in den Westen, wo es große Städte und Unternehmen gab. Ich hatte immer nur Vater gehabt.
Und nun... war ich allein. Ein Glühen erfüllte auf einmal den Raum und ich sprang erschrocken auf. Mitten im Raum breitete sich ein helles, gleißendes Licht aus, aus dem ein zischelndes Wispern drang. Ängstlich wich ich zurück und stieß dabei einen Spiegel um, die Scherben fielen klirrend zu Boden. Zitternd drückte ich mich an die Wand. »Schschscht...«, drang eine weibliche Stimme aus dem Licht. »Hab keine Angst, meine Tochter.«
Abrupt hob ich den Blick und sah, dass sich langsam die Gestalt einer jungen Frau aus dem Licht formte. »Mutter...?« Sie lächelte und schwebte auf mich zu. »Urgroßmutter wohl eher. Ich und meine Familie lebten vor Äonen hier in diesem Land. Nenn mich Auphelia, mein Kind.« Zögerlich machte ich einen Schritt in ihre Richtung. »Bist... Bist du ein Geist?« Sie tippte sich nachdenklich ans Kinn. »So könnte man mich wohl nennen, ja.«
»Heißt das, ich kann auch mit Vater sprechen? Er kann bei mir sein?«
Auphelia legte tröstend ihre Arme um mich. »Es tut mir so leid, mein süßes Kind. Er ist schon im Jenseits.« Meine Augen füllten sich wieder mit Tränen und ich sah meine Ahnin flehend an. »Das... Das kann nicht wahr sein. Er darf nicht tot sein! Ich brauche ihn!«
Sie wischte mir fürsorglich die Tränen aus den Augen. »Ich weiß. Auch ich habe meinen Vater verloren. Ich verstehe deinen Schmerz nur zu gut.« »Wirklich?«
»Oh ja. Aber ich habe die Kraft erhalten, ihn zu retten! Nur war ich zu schwach, um sie zu nutzen...«
Ich stand auf und trocknete meine Tränen.
»Ich bin stark! Meister Fu hat gesagt, ich wäre perfekt für ein Miraculous, wenn ich alt genug bin. Aber das war bevor...« Meine Hände ballten sich zu Fäusten. »Bevor er mich im Stich gelassen hat.« Auphelia musterte mich gründlich.
»Hm... Nun, vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit, deinen Vater wiederzusehen.« Sie lächelte. »Und nicht nur ihn! All deine Vorfahren kannst du zurück ins Leben rufen.« Hoffnung setzte sich in meine Brust und ließ mich nach Auphelia's bleicher Licht-Hand greifen. »Wie? Was soll ich tun?« Auphelia strich sich die Haare aus der Stirn und gab den Blick auf ein kunstvolles Symbol an ihrer Stirn frei. »Das hier ist das Siegel der Könige, mein Kind. Es verbindet die ewige Nacht des Totenreichs mit dem diesseits, wie der Mond die irdische Nacht mit dem Licht der fernen Sonne erleuchtet. Ich, als erste Trägerin des Siegels, kann es meinen Nachfahren anbieten, wenn sie einen geliebten Menschen verloren haben.« Sie strich mir den Pony aus dem Gesicht. »Ich kann dir eine unglaubliche Macht verleihen, mein Kind, stärker als die Miraculous des Hüters! Schließt du ein Bündnis mit mir, erhältst du die Gabe, Geister zu befehligen. Du bist dann eine Königin! Dafür müsstest du nur einen Pfand geben.« Ich nickte. »Was für einen?«
»Nun, da du die Seele deines Vaters erwecken willst, wird der Pfand deine Seele sein. Keine Sorge, du wirst nicht sterben. Ich schenke dir einen Beschützer, der immer auf dich Acht geben wird.« Unsicher sah ich sie an. »Was... was passiert dann mit mir, wenn ich meine Seele verpfände?« »Oh, gar nichts, mein liebes Kind. Nur... solltest du oder dein Schutzgeist sterben, bevor du dein Ziel erreicht hast, dann wird deine Seele ins Siegel der Könige gezogen werden. Du wirst nach deinem Tod nicht ins Jenseits gelangen, sondern als Geist des Siegels auf den nächsten Träger warten müssen. Aber das macht doch keinen Unterschied, oder? Du wirst nicht versagen.« Ich dachte nach. Wenn ich diese Chance verstreichen ließ, würde ich für immer alleine sein. Auphelia konnte mir ein unglaubliches Geschenk geben... Sie konnte mir meine Familie geben. Das musste ich nutzen! »
Entschlossen hob ich den Blick. »Ich mache es.« Auphelia lächelte mich stolz an. »Du musst einen Eid ablegen, wie jede Königin. Es ist ganz leicht! Die Worte sind bereits in deinen Gedanken, so wie mein Blut in deinen Adern fließt.« Ich stellte mich aufrecht hin und sah Auphelia fest in die Augen. Meine Lippen bewegten sich wie von selbst, genau wie sie gesagt hatte. »Ich schwöre bei meiner Seele, meine Ahnen aus der ewig mondlosen Nacht zu erwecken und ihnen das Leben einzuhauchen. Das Siegel der Könige ist meine Bestimmung, seine Kraft mein Geburtsrecht. Ich, Luna Kaiwen, jüngste Königin der Geister, gebe meine Seele als Pfand und verlange Macht über das Totenheer. Die Schutzgeister, die Dämonen und die Seelen sollen mir gehorchen, damit ich mein Werk vollenden und meine Krone verdienen kann.« Das Mal an Auphelia's Stirn glühte auf, als sie sich zu mir hinabbeugte und mich auf die Stirn küsste. »Ich, Auphelia, erste Königin der Geister, kröne dich zur Königin der Nacht, Tochter des Sichelmondes und Herrin über die Geister der Vergangenheit.« In den Scherben am Boden konnte ich sehen wie sich schimmernde, lavendelfarbene Linien über meine Stirn ausbreiteten und dasselbe Symbol wie bei meiner Vorfahrin bildeten. Ein helles Kleid materialisierte sich an mir, wie das aus den Märchenbüchern, die mir Vater immer vorgelesen hatte. Es wurde von einem dunkleren Kapuzenumhang ummantelt, auf meinem Scheitel erschien eine funkelnde Tiara und meine Haare färbten sich weiß wie frischer Schnee. »Du bist die nächste Auphelia.«, sagte sie feierlich und lächelte mich an. »Ich werde dich begleiten, auf deinem Weg zur Wiedererweckung deiner Lieben. Ich werde dir helfen, deine Gabe zu perfektionieren, bis du mich übertreffen kannst. Du wirst etwas Besonderes sein, mein Kind.« Ich lächelte und strich über das Siegel an meiner Stirn. Die Trauer in mir war in einen winzigen Teil meines Herzens verbannt worden, der Rest von mir fühlte sich kühl und still an. Ich war eine Skulptur aus Unbeugsamkeit und Willenskraft. Und so fühlte ich keinen Schmerz mehr, als ich meinen armen Vater zudeckte, aus dem Zimmer ging und die Tür hinter mir schloss. Auphelia war verschwunden, aber ich wusste, sie würde zurückkehren, wenn ich sie brauchte. Noch vor dem Morgengrauen würde ich von hier verschwunden sein, würde dieses Dorf hinter mir lassen und damit beginnen, meine Fähigkeiten zu trainieren. Ich musste mein Heer aufbauen. Sollten die Dörfler sich um Vaters toten Körper kümmern... ich würde seine Seele zurückholen.

Es ist ein schicksalhafter Tag gewesen. Kein schöner zwar, aber dennoch schicksalhaft. Soll mich das Leben doch verhöhnen. Warum sollte es mich kümmern, wenn ich den Tod in meiner Gewalt habe?

Seufzend richtete ich mich auf und legte den Stift weg. Tagebuch schreiben war zeitraubender, als ich es vermutet hatte. Ich packte es eilig weg und strich mir die Haare hinters Ohr. Solange ich nicht Auphelia war, waren sie immer noch schwarz und das Siegel an meiner Stirn unsichtbar. Meine Ahnin Auphelia zeigte sich mir ebenfalls nur, wenn ich verwandelt oder hoch konzentriert war. Dafür wurde es aber sowieso langsam Zeit, ich hatte noch viel vor. »Auphelia«, flüsterte ich und ließ mich vom silbrigen Nebel einhüllen, der mich in mein wahres Ich verwandelte. Sofort erschien Lancelot, mein Schutzgeist. Der stolze, weiße Tiger strich um mich herum und beäugte meine Umgebung misstrauisch, als erwartete er jederzeit einen Angriff. Lächelnd stand ich auf und ließ den Blick über die Dächer der Stadt wandern. »Ist Paris nicht schön, Lancelot?«, fragte ich rhetorisch und kraulte ihn hinter den Ohren. »Komm, mein Großer. Wir spielen etwas mit Meister Fu's neuem Musterschüler, diesem Nataniël. Wie war sein zweiter Name nochmal...? Ach ja!« Ich lächelte heimtückisch.
»Dragon.«

Miraculous 3.2 - AupheliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt