Kapitel 1 - Der weiße Tiger

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Nataniël

Flügelschlagen.
Immer wieder hörte ich es. Dieses leise Geräusch von Flügeln, zarten, zerbrechlichen Flügeln. In denen doch so viel Macht lag. Ich hasste dieses Geräusch! Jedes Mal, wenn ich alleine oder zu still war kehrte es zurück, eine Erinnerung an die Schwäche, die ich gezeigt hatte. An das Leid, das ich gebracht hatte. Marinettes blasses Gesicht tauchte in meinen Gedanken auf, wie sie leblos in diesem kalten, leeren Krankenhauszimmer lag. Mehr tot als lebendig. Meinetwegen. Ich ließ den Blick über Paris schweifen, zwang mich, an etwas anderes zu denken. Die Sommerferien waren morgen zu Ende, das neue Schuljahr würde anfangen. Und so wie es aussah, würde das bald mein größtes Problem sein. Gelangweilt ließ ich die Füße vom Dach baumeln, der Abend senkte sich langsam über die Hauptstadt von Frankreich. Meine Krallen trommelten auf die Ziegel und ich seufzte. Was für einen Sinn hatte das? Hawk Moth war keine Gefahr mehr, Marinette war fort und die Stadt war außer gelegentlichen Diebstählen absolut ruhig. Wer brauchte einen Superhelden, wenn niemand in Gefahr war? »Dein Selbstmitleid ist furchtbar öde! Lass uns was unternehmen!«, meckerte Tian-Lóng per Telepathie. »Nein, keine Lust.« »Möchtest du nicht irgendwas zeichnen?« »Nein, keine Lust.« »Ach komm schon! Sei kein Langweiler! Du trauerst ihr jetzt schon seit Wochen hinterher! Wird es nicht langsam mal Zeit, weiterzumachen?« Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Nein!«, sagte ich scharf und stand auf. »Keine Lust!« Ohne mein murrendes Kwami zu beachten machte ich mich auf den Heimweg. Ich sollte vor Neun Uhr zu Hause sein, Nina brauchte bei irgendeiner Hausaufgabe meine Hilfe. Warum musste sie auch immer alles solange aufschieb- Ein gewaltiges Krachen riss mich aus meinen Gedanken. »Hast du das gehört, Tian-Lóng?« »Das war wohl kaum zu überhören! Los, beeil dich! Es kam vom Louvre!« Worauf wartete ich noch? Auf Ladybug? Schnaubend rannte ich los und ließ die Peitsche knallen, zog mich über die Dächer hinweg. Sie würde nicht kommen. Nicht mehr. »Verdammt, Menschling! Konzentrier dich! Da braucht jemand deine Hilfe!« Er hatte Recht. »Bin gleich da!« Schlitternd kam ich zu stehen als die gläserne Pyramide in Sicht kam. Was zur Hölle war das? Der ganze Platz war in silbrigen, Dichten Nebel getaucht, nur die Spitze der Pyramide lugte oben heraus. Aus dem Dunst kamen Schreie!
Ohne zu Zögern machte ich einen Satz hinunter in den Nebel und rollte mich auf dem Platz ab. Man sah die Hand vor Augen nicht! Und der Nebel war eisig kalt! »Hilfe!«, hörte ich eine Stimme links von mir, gefolgt von einem Fauchen. Ich durfte keine Zeit verlieren! »Drachenflamme!«, rief ich und reckte meine Faust in die Luft, sofort züngelten ein paar Flammen daran hoch. Lächerlich, verglichen mit dem tosenden Feuer, das ich einst entfesseln konnte. Meine Kräfte waren geschwächt, seitdem ich Bekanntschaft mit diesem goldenen Akuma gemacht hatte. Ich vertrieb diesen Gedanken und hielt die Flammen hoch, damit sie den eisigen Dunst erhellten. Ich konnte den Schatten eines vielleicht zehnjährigen Mädchens ausmachen, das von irgendetwas Glühendem umkreist wurde. Mit einem Satz war ich bei ihr und hielt sie fest, dann zog uns meine Peitsche von diesem Leuchte-Ding weg und wir landeten am Rande des Nebels. »Lauf!«, rief ich der Kleinen zu und wandte mich um, ich hörte, wie das Ding auf mich zu rannte. Sie nickte und lief los, während ich mich wieder dem Leuchten zuwandte. Das Geräusch von Schritten war wieder verstummt, es war absolut still in diesem gespenstischen Dunst. Ohne Vorwarnung schoss eine riesige Tatze in mein Sichtfeld und raste auf mein Gesicht zu, überrascht ließ ich mich fallen und rollte mich unter den Krallen hindurch ab. Kampfbereit sprang ich auf, aber erneut konnte ich nur Nebel sehen. Aber... wo war der Angreifer hin? »Okay, also das ist unheimlich.«, sagte Tian-Lóng langsam. »Benutz die Wärmesicht, vielleicht hilft's gegen den Nebel.« Ich nickte und schloss die Augen, als ich sie das nächste Mal öffnete, war meine Umgebung eine Mischung aus Blau und Orange. Blau für den kalten Nebel, orange für die Menschen, die in einiger Entfernung durch den Dunst irrten. Aber wo war der Angreifer? Bevor ich ihn ausmachen konnte sprang mich etwas von hinten an und schleuderte mich weg, ich landete unsanft am Fuß der Pyramide. Das Glas war völlig vereist! Ein Fauchen hinter mir ließ mich panisch hochschießen, gerade rechtzeitig, um einem Maul voller schneeweißer Zähne zu entkommen. Das Tier verschwand wieder im Nebel, bevor ich es richtig erkennen konnte, griff mich aber sofort wieder aus dem Hinterhalt an. »Das reicht!«, knurrte ich und kanalisierte die restliche Energie der Drachenflamme in meine Peitsche. Mit einem Kampfschrei schwang ich sie durch den Nebel, der durch die Hitze mehr und mehr zurückwich. Ein Knacken hinter mir ließ mich innehalten und ich sah, dass sich feine Risse über das Glas der Pyramide zogen. Mein Feuer brachte die vereisten Scheiben langsam an ihre Grenzen. Ich war nur kurz abgelenkt, aber es reichte, um der Bestie einen weiteren Angriff zu erlauben. Erneut schleuderte sie mich rückwärts und ich flog geradewegs durch das berstende Glas hindurch. Schmerzhaft kam ich auf, mein Kostüm hatte mich zwar ausreichend vor den Splittern geschützt, aber der Aufprall war unangenehm. Ich versuchte ächzend, mich aufzurichten, doch plötzlich spürte ich ein paar eiskalte Krallen auf meiner Brust, die sich brennend in meine Haut bohrten. Das Tier stand mit gebleckten Zähnen über mir, das weiße Fell gesträubt. Ein... Tiger. Ein weißer, riesiger, glühender Tiger! Er fauchte mich an und riss das Maul auf, doch auf einmal hielt er Inne und wich zurück. Mit einem letzten Knurren verschwand er, und mit ihm der Nebel. Verwirrt sah ich mich um und stand auf. Die Pyramide war fast völlig zerstört, das Glas hing in Splittern von den dreieckigen Rahmen. Das schmelzende Eis dampfte in der Abendsonne, die Passanten auf der Straße waren nicht weniger geschockt als ich. Fragend sahen sie zu mir, aber ich hatte ja selbst keinen Schimmer, was hier gerade passiert war. Ich verschwand besser, bevor man mir Fragen stellen konnte. Mit einem Peitschenschwung zog ich mich auf die Dächer und rannte los, bis ich weit genug weg war, um nachdenken zu können. »Was zur Hölle war das denn?«, fluchte Tian-Lóng und ich zuckte mit den Schultern. »Ein normaler Tiger war es jedenfalls nicht. War das ein Kwami?«
»Eins in der Monster-Version? Nein, dann hätte ich es spüren können
»Das... Was... Ah, verdammt! Ausgerechnet jetzt, wo kein Miraculous Ladybug zur Verfügung steht, zerstört ein Eis-Tiger die Pyramide! Und dann entkommt er mir auch noch!«
Ich seufzte und rieb mir den Kopf.
»Ich sollte zu Meister Fu gehen, oder? Ich war seit sechs Wochen nicht mehr bei ihm und er wird sicher stinkig, wenn er denkt, wir liegen den ganzen Sommer auf der faulen Haut
»Das haben wir doch, oder?«
»Nein! Das war... eine vorübergehende Beurlaubung. Los jetzt, vielleicht weiß er etwas über dieses Tiger-Ding

»Wayzz? Sag mir, kennen wir den Jungen an der Tür?«, fragte Fu über die Schulter, als er mir aufmachte. Ich sah betreten zu Boden. »Na ja, es waren schließlich Sommerferien.«
»Ein wahrer Held hat keine Ferien!«
»Sekunde mal, sie haben seit mindestens zwanzig Jahren Pause, oder?«
»Ich bin im Ruhestand, das ist was anderes. Jetzt komm rein, ich nehme an, es ist wichtig, wenn du so plötzlich hier aufkreuzt.«
Ich trat ein und setzte mich an meinen üblichen Platz auf der Matte am Boden, gegenüber von Fu's Stammsessel.
»Ich glaube, wir haben ein Problem.«, fing ich an und erzählte meinem Lehrer von den Ereignissen der letzten Stunde. Seine sonst so gefasste Miene wurde zunehmend unruhiger, je länger ich erzählte. »Da war nur dieser Tiger? Niemand, der ihm Befehle gegeben hat? Und das Tier hat keine Körperwärme ausgestrahlt?«, hakte Fu nach und ich nickte. »Es hätte genauso gut Luft sein können! Unheimlich...« Besorgt tigerte der Hüter in seiner Wohnung herum. Wayzz dagegen runzelte missbilligend die Stirn. »Ich hab Ihnen ja gleich gesagt, dass mit ihr nicht zu spaßen ist.« Verwirrt sah ich ihn an. »Mit wem denn?« »Mit niemandem!«, rief Fu hastig und rieb sich seufzend die Stirn. »Er meint eine alte Bekannte, die... eine gewisse Affinität zu... bestimmten Wesen hat. Aber sie hat sicher nichts damit zu tun! Sie lebt meilenweit von hier weg und hat etwas gegen mich. Sie würde garantiert nicht hier aufkreuzen, selbst, wenn es um ihr Leben ginge. Tatsache ist aber, dass dieser Angriff besorgniserregend ist. Sehr sogar. Im schlimmsten Fall ist die Gefahr so groß, dass wir uns Hilfe holen müssen.« Das klang übel. Wenn Meister Fu Hilfe brauchte, saßen wir wirklich in der Klemme. »Sagen Sie mir doch einfach, was das Problem ist, dann kümmere ich mich darum.«, schlug ich vor und lehnte mich zurück. Ich war immerhin Dragon! Womit konnte ein Superheld schon Schwierigkeiten haben? Das Vieh vorhin hatte mich schlichtweg überrascht. »Das wirst du unmöglich alleine schaffen.«, sagte Meister Fu nüchtern und stand auf. »Du brauchst eine Partnerin!« Mein Herz setzte einen Schlag aus und Ich sah weg. Mit Teampartnern war das so eine Sache... »Nein. Ich bekomme das auch so hin.«, sagte ich abweisend. Niemand wäre je so gut wie Ladybug. Oder wie Marinette. »Du bist talentiert, Dragon, und gewiss nicht dumm.«, meinte Fu ernst und ging zum Grammophon auf seiner Kommode. »Willst du die Verantwortung für die Hauptstadt von Frankreich wirklich alleine schultern?« Meine Gedanken schweiften zu Cat Noir und Ladybug ab. Sie waren das Dream-Team von Paris gewesen, die Unbesiegbaren. Vielleicht sollte ich doch ein Team bilden. Aber... das wäre so, als würde ich Marinette ersetzen wollen. »Ich will keine Partnerin!« »Das hast du nicht zu entscheiden!«, donnerte Meister Fu plötzlich los und ich zuckte zusammen. »Es geht hier um ganz Paris, Junge! Bist du wirklich so vermessen zu glauben, dass du jeden einzelnen beschützen kannst? Du riskierst Menschenleben, nur weil Ladybug dir das Herz gebrochen hat! Nicht nur das von Zivilisten, auch dein eigenes! Du trägst eine riesige Verantwortung!« Schnaubend sprang ich auf. »Ich bin erst sechzehn! Ich denke, ich kann es mir erlauben, auch ein normaler Junge sein zu können!« Der Hüter atmete tief durch. »Das ist genau das, was ich meine. Solange du der Einzige bist, der Paris beschützen kann, wird es dir nicht gegönnt sein, normal zu sein.« Seine Stimme war so ernst, dass meine Wut schlagartig verrauchte. Er nahm etwas Kleines aus dem Geheimfach des Grammophons und legte es in eine sechseckige Schatulle, dann reichte er sie mir. »Niemand verlangt von dir, über deine erste große Liebe hinwegzukommen. Du bist ein Teenager, das gehört dazu! Aber du hast in der Grotte damals mehr angenommen, als ein Miraculous. Du hast dich bereiterklärt, der Held zu sein, den Paris braucht, und daran musst du dich halten.« Unschlüssig sah ich auf das Kästchen in meiner Hand und Fu klopfte mir auf die Schulter. »Ich glaube, du solltest dir deine Partnerin selbst aussuchen.«, sagte er lächelnd. »So, wie du dir dein Miraculous selbst beschafft hast.« Sein Blick wurde mahnend. »Gib mir aber ja gut auf die Schatulle Acht! Das hier ist wertvoller als sämtliche Gemälde im Louvre zusammengenommen, verstanden?« Ich nickte eifrig. Wenn ich schon ein Team bilden sollte, dann würde ich mir die beste Partnerin suchen, die es in Paris gab!

Miraculous 3.2 - AupheliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt