8. Mibala - Zum Greifen nah...

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8. Mibala –  Zum Greifen nah...

Tom

Mein Kopf war ein Gedränge von Gedanken. Wie die Elfen um uns herum, gab es immer wieder Gedankengänge, die rücksichtslos andere wegstiessen, um sich selber Platz zu machen. Andere wiederum beschwerten sich über dieses Chaos und wollten ebenfalls ihren Platz haben. Doch ich war nur ein Mensch. Ich war nicht fähig, meine Gedanken zu stoppen, meinen Körper zu beruhigen. Genauso wie es sinnlos gewesen wäre, die Elfenmenge um mich herum etwas besänftigen zu wollen.

Aber zum Glück hatte ich Avery. Um uns Zeit und viel Weg zu ersparen, hatte er uns beide mittels Elfenstaub bis vor die Pforten der Hauptstadt der Elfen gezaubert. Und nun war er es, der mich durch diese riesige Stadt namens Zia lotste und gelegentlich verhinderte, dass ich von viel zu prall gefüllten Karren umgerammt wurde.  Ohne ihn würde ich den Weg zum Schloss nie finden. Zwar ragte es riesig und prachtvoll aus der Stadtmitte hervor, doch all diese vielen, von unterschiedlichsten Verkaufsständen und Wesen vollgestopften Wege schienen so willkürlich angeordnet zu sein, dass ich bereits nach den ersten Biegungen nicht mehr sagen konnte, von wo wir herkamen.

Zudem hatte ich die Vermutung, dass ich ohne Avery auffallen würde wie ein bunter Hund unter all diesen vielen weissen Snepalen. Immer wieder tauchten Bilder vor meinem geistigen Auge auf, wie einer dieser rumstreunenden Wächter mich fasste und ich vor den Augen jubelnder Elfen hingerichtet wurde. Schaudernd erinnerte ich mich an Averys Blick, als ich erklärte, ich sei ein Mensch und gleichzeitig zog ich die Kapuze des grauen Mantels tiefer in die Stirn, als würde dort in grellen Buchstaben „Mensch“ stehen.

Doch all das war Unsinn.  Zumindest versuchte ich mir dies einzureden. Und manchmal, wenn Avery mir wieder ein aufmunterndes Lächeln schenkte, gelang es mir sogar. Hach, was war ich froh, diesen Elfen bei mir zu haben!

„….ewig her, als ich zuletzt an diesem einmaligen Spektakel…“

Wie immer voller Begeisterung drang Averys Stimme in mein Gehör. Doch so sehr ich ihn auch mochte, ich konnte mich einfach nicht auf den Inhalt seiner Worte konzentrieren. Zu fest lenkten mich meine Gedanken ab, und wenn sie es mal nicht taten, waren es die Gerüche, die von den Essensständen ausgingen und immer wieder Fetzen von Erinnerungen mit sich trugen.

Da waren leckere Früchte, die rochen wie Maries Shampoo. Oder Kräuter, wie Oma sie zu Lebzeiten immer anpflanzte. Auch Gewürze waren dabei, die mich in meine Kindheit zurückversetzten, als meine Eltern noch lebten und wir noch oft auf Reisen waren. Und manchmal waren da auch diese süssen Düfte, die mich sanft streiften wie Annabelles Lippen.

Doch all diese Erinnerungen hinterliessen einen sauren Geschmack in meinem Mund. Machten sie mir doch schmerzhaft bewusst, dass mich keiner dieser Kleinigkeiten mit der Frau verband, die ich vor hatte zu finden, weil ich schlichtweg keine Erinnerungen an sie hatte. Ich besass nichts als ihren Namen, nur eine bedeutungslose Hülle. Und ich hatte diese blaue Lilie, sorgsam versteckt in meinem Rucksack.

Doch was, wenn sie sich ebenfalls nicht an mich erinnerte? Wenn ich sie fand und alles umsonst war, jeder Schritt den ich jetzt tat. Denn mich quälte immer noch am meisten, wie es dazu kommen konnte, dass jemand eine angeblich so grosse Liebe einfach vergass. Einfach vergessen konnte, wenn ich sie doch so geliebt haben musste!

„Komm schon, es geht gleich los!“ Die Worte drangen wie von weit weg zu mir durch.

Da erst wurde ich endgültig aus meinem Sumpf voller Zweifel gerissen und ich nahm meine Umgebung erst wirklich wahr. Hier stand ich, inmitten begeisterter Elfen und zahlreicher quengelnder Kinder. Ein reinstes Gewusel befand sich auf diesem riesigen Platz und der einzige Ruhepunkt bildete der Palast, der sicher und mächtig vor uns stand, wie ein Fels in der Brandung.

Verenuna - Stimme der Nacht (Feenland 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt