12. Der Wanderer, der verlernt hatte, wie man lief
Tom
Abschied fällt schwer. Besonders wenn man nicht weiss, wo man sich befindet und wohin man geht. Wenn man weiss, dass man eine Person verlässt, aber nicht mehr als ihren Namen und ihr Aussehen kennt. Dieser Abschied fühlte sich so endgültig an. Und das deprimierte mich, weil ich in dieser Welt nichts hatte ausser meinen Gefühlen. Ich hatte nur mich, war umringt von seltsamen Kreaturen.
Eine kleine Hand lag in meiner und sie wog doch so schwer. Wie sollte ich ihr Schutz geben? Wie sollte ich ihr zeigen, wie man in dieser Welt überlebte? Und vor allem, was machte ich, wenn sie mich fragen würde, ob ich ihre Mutter geliebt hatte? Wie wir uns kennengelernt hatten. Der erste Kuss. Die eine Nacht. Und die musste es wohl gegeben haben, andernfalls wäre Amaya wohl kaum hier. Andernfalls wäre ich wahrscheinlich nicht hier. Denn irgendetwas musste es doch gewesen sein, das mich hergeführt hatte.
Ich dachte an Zuhause. Die Erde. Annabelle. Ich hatte immer gedacht, dass sie die Einzige wäre, die ich brauchte. Dass ihre Liebe mir Halt geben würde und ich allen Lücken in meinem Gedächtnis Stand halten konnte. Doch nun wusste ich es besser. Ich wusste, dass ich nicht fähig war, mir selber Halt zu geben oder irgendwem sonst. Ich spürte, dass in mir etwas fehlte, etwas ganz Entscheidendes. Dieses Unwissen über meine Vergangenheit plagte mich. Es setzte mir zu, indem ich mir Geschichten erfand, die hätten sein können. Indem ich die ganze Zeit nach einer Person suchte, die ich war. Oder sein wollte. Denn die Wahrheit war doch, dass ich nicht wusste, wer ich war. Was ich wollte. Was mit mir geschah.
Ich war wie ein Wanderer auf der Suche, doch ein Ziel hatte er nicht. Er versuchte lediglich, sich selbst zu finden. Und er lief und lief. Und irgendwann merkte er, dass er sich verirrt hatte. Sein Körper war leer. Die Gefühle verwirrt. Und die Gedanken drehten sich im Kreis. Ich war ein Wanderer, der verlernt hatte, wie man lief.
Als mir dies bewusst wurde, verspürte ich das Bedürfnis, Annabelle um Hilfe zu fragen. Ich wusste, ich brauchte ihren Rat. Sie wusste, wie man Wege fand, sie würde mir wieder zeigen können, wie man lief. Doch sie war nicht hier, sie lebte nun ohne mich in einer anderen Welt. Und ich musste nun ohne sie leben, das hatte ich selbst entschieden. Meine eigene Wahl war es, den Worten des Briefes zu folgen. Mein altes Leben zu verlassen und gleichzeitig zu versuchen, meine Vergangenheit zu finden. Mich zu finden. Und dafür brauchte ich Lily.
Denn Tom braucht Lily, so stand es doch in Annabelles Brief. Vor allem aber brauchte ich irgendjemanden. Sicherheit. Ein ganz bestimmtes Gefühl. Ich brauchte einen Plan in meinem Herzen. Worte, die Sinn ergaben. Einen Menschen, der wusste, wer er war.
Als ich dies so dachte, fühlte ich, wie sich etwas zu verändern begann. Es war, als hätte ich etwas in mir befreit. Ein Stein, der lange irgendwo festgesteckt hatte und nun an seinen Platz gerutscht war. Es fühlte sich gut an. Wie eine tröstende Umarmung. Mir wurde warm ums Herz. Dann stockte mir der Atem. So viel Liebe…
Die Welt schien still zu stehen, alles wurde blau. Es war eine beruhigende Farbe. Sie schien mir so bekannt. Doch das Gefühl, das sie mir gab, übertraf alles. Mein Herz schien zu fliegen, meine Sinne spielten verrückt. Diese Farbe, der Geschmack. Ich sah die Lilie vor mir, die ich selbst gezogen hatte. Sehnsucht. Ich wollte sie berühren. Doch dann berührte sie mich und ich liess mich fallen. Es fühlte sich so gut an, so richtig. In mir war etwas. Jemand. Und ich wollte sie für immer in mir Behalten. Eine Erinnerung erklärte mir, dass das ihre Magie war. Lilys Seele war in mir. Wir waren so eng verbunden, wie irgendwie nur möglich und ich wünschte, es würde ewig so bleiben. Noch nie hatte ich mich so komplett gefühlt, noch nie so frei.
Doch dann sah ich, dass dies nicht stimmte. Dass ich dieses Gefühl schon einmal hatte. Und mit dieser Erinnerung kamen noch weitere. Tausende Bilder, Gerüche, Stimmen erfüllten mich, umhüllt von dieser schönste aller Farben. Das zarte Blau schien mich zu küssen, immer und immer wieder und jeder Kuss brachte mir Erinnerung, brachte mir Klarheit und vor allem Liebe.
Ich sah mich auf der Erde Blumen giessen und auch ich wurde nass. Mir wurde klar, dass wir beide das Bedürfnis verspürten, unser damaliges Leben hinter uns zu lassen. Wir beide wollten etwas ändern. Und das taten wir mit Annabelles Hilfe. Ihre Augen erschienen vor mir, neugierig. Auch später wusste ich nie, was ich von ihr halten sollte. Nur ein Gedanke über sie war klar.
Tom bedeutet sie etwas.
Ich lächelte, aber es war nicht mein Lächeln. Diese Gedanken gehörten jemand anderem. All das war, was die Farbe fühlte. Und sie fühlte noch viel mehr.
Immer wieder war da dieser Mensch, der mich faszinierte und in seinen Bann zog. Aber da war auch jemand anders. Linus. Nach Toms Verschwinden tauchte er mit ihm auf und sie beide brachten meine Welt durcheinander. Ich glaubte, sie beide zu lieben. Doch da war auch die Sorge um Mira. Immer wieder träumte ich davon, wie sie starb. Ihre Verletzungen konnte ich kaum mit ansehen. Ich wollte sie retten, um jeden Preis.
Gesichter tauchten auf und verschwanden. Viele Eindrücke auf einmal. Die Stimme sagte mir, dass es die Rebellen waren. Ich schien zu kämpfen, doch auf einmal verlor ich jede Kraft. Ich machte mir Sorgen um Tom. Der Mensch war weg, alleine in dieser Welt. In den Händen der Königin. Ich begann immer mehr, die beiden Herrscher zu verabscheuen. Schliesslich gelang es uns, Linus und ihn zu befreien. Alles schien gut zu werden. Alles fühlte sich gut an. Im Dorf war Mira wieder kerngesund. Wir feierten. Diese Nacht verbrachten Tom und ich im Wald. Es war die schönste Nacht meines Lebens und der einzige Grund, weshalb ich so lange durchhalten konnte. Amaya war die letzten acht Jahre mein ein und alles.
Ich begann zu weinen und die Bilder gerieten durcheinander. Emily tot. Die Klippe. Es schien so klar, dass Tom nicht bleiben konnte.
Meine Liebe hat nur das Beste verdient.
Um jeden Preis wollte ich zurück ins Feenland, wieso sollte er hierbleiben wollen?
Schuldgefühle.
Viele Tränen im Wind.
Alles feierte. Der Krieg war vorbei. Die Herrscher waren auf einmal weg. Und Tom auch.
Ich fühlte mich schwer. Langsam verblasste die Wärme, die blaue Farbe. Sie hatte mir alles gesagt, was sie musste. Doch weitere Worte schlichen sich in meine neue Erinnerung. Ganz leise, doch umso bitterer.
Wieso sehen mich die Leute als Hoffnung, wenn doch alles durch mich begann?
Dann war die Farbe weg. Mein Kopf brummte, mein Herz flatterte noch immer. Ich fühlte mich voll und gleichzeitig so frei. Ich hatte das Gefühl gefunden, das ich gesucht hatte. Mein Leben ergab plötzlich Sinn, mein Herz hatte seinen Plan wiedergefunden. Ich betrachtete Amaya und Avery und fühlte mich nun imstande mit ihnen zu gehen. Ich wusste, weitere Probleme würden auf uns warten, doch wir würden es schaffen. Denn endlich fühlte ich mich wieder wie ein richtiger Mensch. Gemeinsam verliessen wir Whiters, das Schloss und den König und ich genoss das Geschenk, das Lily mir gemacht hatte. Ich war ein Wanderer, der verlernt hatte, wie man lief, doch Lily hatte mir gezeigt, wie es war zu fliegen. Und fliegend ging alles leichter. Ich mochte das Bild von Vögeln, die frei waren und alles schaffen konnten. Ich mochte das neue Bild von mir. Und ich genoss die kleine Hand in meiner. Denn Amaya war ein Zeichen. Sie war meine Vergangenheit, meine Liebe. Amaya war meine Tochter.
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Verenuna - Stimme der Nacht (Feenland 2)
Fantasy*Fortsetzung von "Feenland - Die Heimreise der verbannten Fee"* Das mysteriöse Verschwinden sowohl der Feenkönigin als auch des Elfenkönigs liess einst beide Völker hoffen. Nun, 8 Jahre später sind sie für alle das Grauen. Die Feen werden unterdrück...