9. Eisige Wand

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9. Eisige Wand

Verwirrt stand ich wieder auf dem Marktplatz. Ich fühlte mich erschlagen, verloren, ausgelaugt. Und gleichzeitig so voller Hoffnung. So viel Liebe.

 „Tom?“

 Avery klang besorgt. Ich konnte es ihm nicht mal verübeln, denn was gerade geschehen war, was ich gerade erfahren hatte, das alles war nicht ohne. Das hier war real. Und es war ernst. Denn es ging um mein Leben, um meine Liebe und um unsere Zukunft.

 Ich spürte immer noch das Gefühl von dem prunkvollen Saal nachklingen. Diese Leere, die mich erfasst hatte, als ich begriff, dass alles was ich wollte, zum Greifen nah war. So nah, ich war kurz davor gewesen. Ich hatte es gespürt. Doch dann wurde ich heftig in die Realität gerissen, die Wahrheit drohte mich zu erdrücken wie ein riesiger Fels, der sich über mich gelegt hatte. In diesem Moment nahm mir der Gedanke, Lily niemals zu finden, den Atem. Er nahm mir die Hoffnung.

Doch im Nachhinein stellte sich dieser Wunsch als völliger Schwachsinn heraus. Lily wiederzusehen. In dem Moment, als ich sie wirklich wiedersah, wusste ich, dass es nicht nur das war, was ich wünschte. Denn es war mehr. Ich wollte mehr. Ich wollte sie. Ich wollte sie berühren, küssen. Ich wollte sie bei mir, an meiner Seite. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als die Welt mit ihren Augen zu sehen und sie einfach umarmen zu können.

Doch sie sass dort auf ihrem Thron, in edle Gewänder gehüllt und mit glitzernden Diamanten geschmückt. Und ich mochte es nicht, den Schmuck, den Thron, das Schloss. Denn wurde mir erst so richtig bewusst, wie entfernt sie wirklich war. Sie sass vor mir, nur ein paar Meter. Doch ihr Herz, ihr Leben war eingeschlossen in einem Käfig aus Gold. Eingeschlossen in dieser Welt des Königs.

 Aber in dem Saal, voll von bedrückender Leere ahnte ich noch nichts davon. Ich wusste nicht, was kommen würde. Das konnte ich ja schon lange nicht mehr sagen. Ich lebte mehr nach Zufällen. Gefühl. Ich liess mich von einem goldenen Funkeln in den Augen eines fast Fremden leiten. Und als dieser fragte:

„Wollen wir es nun wagen? Wollen wir König und Königin einen Besuch abstatten um rauszufinden, ob sie dich erkennt?“

Ich konnte nicht anders als nicken. Mir fiel nichts Besseres ein, als einfach so mal zu ihnen zu gehen und zu sehen was passieren würde. Ich war ja so blöd. So naiv. Alleine der Ausdruck „König und Königin“ hätte mir doch schmerzlich klarmachen müssen, dass Lily ihm gehörte. Dass er sie in den Händen hielt. In seinen kalten, herzlosen Händen.

So folgte ich aber Avery durch die Menge und trat durch ein grosses, hölzernes Tor, verziert mit Schnitzereien, die bei näherem Betrachten wunderschön gewesen wären. Doch ich war zu beschäftigt, meine Nervosität in Zügel zu halten. Mir panisch zu überlegen was ich überhaupt sagen wollte. Gleichzeitig überwältigte mich der riesige Ballsaal hinter dem Tor, der zu diesem Anlass links und rechts zu unseren Seiten mit Wächtern gesäumt war. Wir liefen eine gefühlte Ewigkeit zwischen diesem Spalier an Wächter entlang bis zum Ende des Ballsaales, wo drei Throne und eine geballte Ladung Emotionen auf uns warteten.

Bei der Herrscherfamilie angekommen, verbeugte ich mich, wie Avery es tat und erst dann hob ich entschlossen den Blick. Ja, ich war entschlossen. Einen kurzen Moment lang war ich fest davon überzeugt, dass ich meine Liebe zurückholen würde. Dass ich ein glückliches Leben mit ihr führen könnte. Ich wollte gemeinsam mit ihr diese Welt entdecken. Mit ihr zusammen sein, bis ans Ende unseres Lebens.

Verenuna - Stimme der Nacht (Feenland 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt