Das hier ist Kapitel ÷ 1

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Es war Mittag, als ich meine Augen aufschlug und die Decke über mir betrachtete. Es waren nur Sekunden, die ich so dalag, nach oben sah und über diese Augen nachdachte, Sekunden, die ich brauchte, um mir auszureden ihn anzurufen. Das gestern war perfekt gewesen, abnormal schön, es war mehr als ich je von diesem Abend erwartet hätte und ich spürte immer noch den Druck auf meiner Brust, das Lächeln auf meinen Lippen und seine Hand, die mich sich nachzog, hörte seine Stimme, wie sie mir befahl meine Augen zu schließen und fühlte den Alkohol in meinen Adern, wie er sich verteilte. 

Ich spürte wie ich beim Gehen leicht schwankte und zur selben Zeit einen unheimlichen Schmerz im Kopfbereich. Besser wäre es wohl wirklich gewesen liegenzubleiben. Dennoch musste ich weg von diesem Schnipsel auf meinem Nachtisch, von dieser Nummer und diesem Satz.

Die Musik welche gestern noch fehlte, war nun in voller Lautstärke da und ließ die Wände der Wohnung beben. Mit einer Hand stütze ich mich an der Türklinke ab, blieb einen Moment in der offenen Türe stehen. Eigentlich liebte ich alles in dieser Wohnung, ich liebte die Wände, die voller Farbe waren, die knarrende Haustüre, ich liebte meine Mitbewohner. An diesem Tag allerdings hatte ich definitiv zu wenig Schlaf abbekommen, um das gleiche Lied immer und immer wieder durch diese Wände zu hören.

Es war mir ein Rätsel, wie sich Ben das antun konnte, denn er tat es nicht zum ersten Mal. Das einzige was heute anders war, war dass ich es heute nicht aushielt. Wenn er darüber sprach, dann sprach er immer davon, dass es seine Aufgabe war zu sagen, ob es gut war oder eben nicht. Dazu brauchte er meistens nicht lange. Nur momentan war er sich anscheinend uneinig. Dabei war es egal, wie oft er es sich anhörte, wie viele Notizen er sich machte, der Sänger würde sie ja doch nicht berücksichtigen. Ben war kein Musiker und auch wenn ich es mir genauer angehört hätte, so wie er es mir rat, ich wäre zum gleichen Punkt gekommen. Ich wusste ja nicht, worauf ich hätte achten sollen. Wahrscheinlich nur ein wenig auf alles.

"Könntest du die Musik ein wenig leiser stellen?", krächzte ich zwischen meinen Lippen hervor. Mein Blick war auf ihn und auf den Laptop vor seiner Nase gerichtet. Die Textfelder die auf dem Bildschirm erschienen wurden mit einem Mausklick geschlossen und seine Augen richteten sich nur auf mich. Mein völlig genervten Ausdruck ließ ihn schmunzeln. Manche Leute behaupteten ich wäre verrückt gewesen mit drei Männern in einer WG zu wohnen, aber ich fand es eine großartige Idee. Erstens gab es so keinen Zickenkrieg, was so viele Probleme beseitigte. Nach einem Tag war alles vergessen und vergeben. Zweitens war Leon schwul, Nico bis über beide Ohren verliebt und Ben wohnte hier nur, wenn ihn sein Bruder aus ihrem Haus verscheuchte. Er meinte, dass sein Bruder manchmal einfach Zeit brauchte um zu arbeiten und obwohl das Haus riesig wäre, wollte er ihn nicht stören. Eigentlich und das hatte ich von Leon mitbekommen, waren die zwei zwar meistens wie ein Herz und eine Seele, wenn es aber dann Zoff gab dann so richtig und sein Bruder würde manchmal mit dem Party machen einfach übertreiben. Also kurz gesagt war Ben nur da wenn in diesem angeblich großen Haus dicke Luft herrschte. Irgendwie muss ich zugeben, dass mich es am wenigsten störte wenn Ben da war, mit der Zeit war er wie mein großer Bruder in einer besseren Version geworden.

"Wie soll ich dann wissen, ob es gut ist?" Mein Magen rebellierte und wollte mein Essen von gestern wieder zum Vorschein bringen, ich hielt mir die Hand vor den Mund und schluckte den Ballast von den letzten Wochen hinunter, versuchte mir dabei nichts ansehen zu lassen. Das was er tat ergab keinen Sinn und dass ich hier stand war auch sinnlos. Ich hätte weiter schlafen sollen. Vielleicht war es gar nicht der Alkohol, der meine Sicht vertrübte, mein Gleichgewicht stahl, mich elendig fühlen ließ, sondern ich wurde einfach nur krank.

Zwei Augen musterten mich besorgt, als ich leicht nach vorne schwankte und plötzlich war es ganz leise. Hände führten mich zum Bett, auf dem ich mich hinsetzte.

"Du warst gestern gar nicht mehr im Club", stellte er fest und schlang einen Arm um meine Schulter. Immer noch müde schloss ich meine Augen und lehnte mich an ihr an. Leicht schüttelte ich meinen Kopf. "Die Schlange war zu lang." Dann folgte eine Stille, in der ich auf den Laptop sah und nur zu gerne seine Notizen gelesen hätte. "Warum machst du das alles? Was bringt es dir? Du kannst einen fertigen Song sowieso nicht verändern." Ich blickte zu ihm hoch, sah das Lächeln in seinem Gesicht. Mit seinen Gedanken schien er Meilenweit von der Realität entfernt zu sein. "Ich kenn da so ein paar Leute, die kennen Leute und die wollen meine Meinung zu ihren Songs. Die wollen wissen, wie ich es finde, weil ich doch mehr mit Musik zu tun habe, als du denkst." Zaghaft nickte ich, glaubte ihm nicht eines seiner Wörter. Ich wusste, dass er log, dafür kannten wir uns lediglich zu lange. Vielleicht kannte er ja jemand, den seine Meinung interessierte, jedoch nicht so wie er es behauptete. Warum würden sie denn genau ihn fragen und nicht jemand anderes? Der Ben vor meiner Nase war kein Musiker, er war vieles aber nicht das. Wenn er nicht darüber sprechen wollte, dann sollte er es für mich auch nicht tun. Deshalb nickte ich und deshalb war das Thema ein weiteres Mal auf die Seite geschoben. "Und wenn gehst du in diese Villa zu deinem Bruder, den ich nicht kennenlernen darf?" Ich stoß ihn leicht auf die Seite, worauf er auflachte und mich in die Wange kniff. In manchen Momenten zweifelte ich an seinen Worten, daran dass er einen Bruder hatte oder in einer Villa wohnte. Ich zweifelte, weil er mir nie das Gegenteil bewiesen hatte. "Du wirst ihn schon noch kennenlernen, der hat zurzeit nur einen vollen Zeitplan und das Haus wirst du auch noch zu Gesicht bekommen." "Das sagst du immer und irgendwann ziehst du aus und ich weiß nicht mal wo du wohnst", konterte ich. Sein Lachen erhellte den ganzen Raum, er ließ sich nach hinten aufs Bett fallen und zog mich mit. Dass sich alles deswegen drehte, schien ihm nicht aufzufallen. "Keine Angst mich wirst du nicht mehr los, wer passt sonst auf dich auf?" Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung, sah ihn mit glasigen Augen an und spürte wie der Raum sich viel zu schnell erwärmte. "Danke", hauchte ich ihm entgegen, bemerkte erst beim zweiten hinschauen, dass er seine Hand auf meine Stirn gelegt hatte und sein Ausdruck besorgter geworden war. "Du bist ja heiß." "Danke", wiederholte ich mit ein wenig mehr kraft in meiner Stimmfarbe. "Nein, ich glaube du hast dir etwas eingefangen. Am besten schläfst du noch eine Runde und danach sieht die Welt ganz anders aus."

Vielleicht waren die meisten Männer wirklich ohne jeglichen Verstand, nur Ben war eben anders. Er war der einzige, der sich um mich kümmerte, er wäre nie gegangen. Selbst als ich seinen Bruder kennenlernte, mich verliebte und ihn dann ohne ersichtlichen Grund verließ. Ben stand neben mir, er hielt mir meine Hand und fragte nicht nach, während ich, nachdem ich Schluss gemacht hatte, weinend vor ihm stand und ich werde ihn dafür nie genug danken können.

Carlo, please stay tru. |Cro Ff|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt