slow down÷ 6

287 12 0
                                    

"Freunde?" 0,22 Sekunden, ein Wort, eine Frage, sieben Buchstaben, ein Satzzeichen, hundert Gefühle und kein Ausdruck in seinem Gesicht, nachdem er meine Stimme gehört hatte. War es auch nur wegen der frühen Uhrzeit, dass er mich mit diesem leeren Blick ansah, aber die Unsicherheit auf meiner Seite wurde dadurch nur noch viel größer. Dennoch ich hätte nicht später kommen können, hätte diese Frage nicht später stellen können. Ich musste ihn jetzt sehen. Das konnte man vielleicht nicht nachvollziehen, aber dass musste man auch nicht, ich wusste, dass ich es machen musste und deshalb war ich da. Bei Viviane war es das Gleiche gewesen, ich hätte später kommen können, allerdings musste ich sofort mit jemanden reden, ich hatte Klarheit gebraucht, wie auch in diesen Moment. Ich hatte die Wand lange genug angestarrt, war lange genug mit dem Fahrrad durch Stuttgart gefahren, hatte mir seine Worte lange genug durch den Kopf gehen lassen und ich musste genau in diesem Moment zugeben, dass ich mein Herz nicht an eine Person verlieren wollte, die mir nicht das geben konnte, was ich so sehr brauchte. Ich wollte nicht einfach mein Herz verschenken, aber ich wollte ihn auch nicht aufgeben. Dieser braunhaarige Wuschelkopf hatte es nicht verdient, wegen etwas abserviert zu werden, für dass er überhaupt nichts konnte und das wollte ich auch gar nicht. Ich war nur noch nicht bereit für etwas festes, für jemanden, der mir jetzt schon versprach, dass mein Herz gebrochen werden würde. Dafür hatte ich zu viel erlebt, ich suchte den Partner für mich und nicht einen sterbenskranken Mann. Mit diesen 0,22 Sekunden wollte ich mich selbst beschützen, ihn gleichzeitig nicht verlieren und Zeit gewinnen, um herauszufinden was ich wollte.

"Freunde?", fragte er teilnahmelos, lehnte sich in den Türrahmen und schloss seine Augen. Keine Ahnung ob er sich nur wiederfinden wollte, oder nicht ganz wach war, aber mir kam es so vor, als bräuchte er für dieses Wort Jahre, damit er es verstand. „Warum denn nicht?" Dann sah man wieder ein Funkeln in diesen zwei braunen Edelsteinen und dieses Schmunzeln auf seinem Gesicht. Er streckte mir seine Hand entgegen, ich nahm sie an, er zog mich zu sich und umarmte mich. Es war 04:20, mein Fahrrad lag auf den Boden, weiter hinten von uns. Sein Auto war weiterhin auf den Parkplatz, weit weg von allem. Keine Vögel, die zwitscherten, keine Heuschrecken, die zirpten, da war ich, er, das Haus und die bewegungslosen Fahrzeuge hinter uns. Das war alles. Wir waren Freunde und betraten als diese auch sein Haus, als Freunde schaltete er seinen Mac an und so sahen wir in seinem riesigen Bett einen Film an. Wir waren Freunde. Zumindest versuchte ich es mir einzureden, als ich meinen Kopf auf seiner Brust niederließ und mich an ihn heran kuschelte. Die Kälte in diesem Raum, war unerträglich, das war mein Grund, dass zu tun, nicht weil er so gut roch. Mir seine Nähe unheimlich gut tat, ich mich durch diesen Kerl ein wenig besser fühlte. Dabei hätte ich auch einfach die Decke nehmen können, um der Kälte zu entfliehen. Während des ganzen Filmes hörte ich eigentlich nur seinem Atem zu. Dass dieser bald zu einem Schnarchen mutierte, ließ mich vor mich hin lächeln. Das ich öfters neben ihn schlief, kann ich euch schon verraten, ich lag oft neben ihm und erst wenn er schnarchte, fühlte ich mich sicher. Geheimnisse, vor allem sein Geheimnis, verfolgte mich jeden Tag. Er würde sterben, er sagte mir zwar nicht wieso, weil es zu kompliziert gewesen wäre. Fakt war aber, dass er nicht mehr lange hatte.

Schon bevor er mich hereingebeten hatte, hatte ich bemerkt, dass er weniger Schlaf abbekommen hatte, wie er gesagt hatte. Somit war auch klar, dass er irgendwann wegpennen würde. Vorsichtig schloss ich den Mac, legte ihn auf die Seite und sah auf die Uhr, die über seiner Tür hing 06:14. Letztlich waren meine Augen wieder auf dem Mann in diesem Raum. Lächelnd schlief er vor sich hin. Er wirkte so friedlich.

Manchmal fragte ich mich, ob er nur alleine war, wenn ich kam, oder mehr als er es mir je gesagt hätte. Er meinte seine Freunde seien immer bei ihm, jedoch sah ich diese fast nie. Dabei hatte er mich in diesem Punkt nicht angelogen, meistens waren sie da, nur nicht wenn er dabei war Musik zu machen, da konnte er sie nicht gebrauchen. Lügen tat der Pandamann beinahe nie, er verdrehte nur die Wörter, sodass man ihn nur falsch verstehen konnte. So hieß zum Beispiel krank, nicht gleich krank.

Meine Füße trugen mich zu seinem Flügel, ich hatte ihn letztens schon bemerkt, ich hatte ihn gesehen und mich an meine Jugend erinnert, an jede Klavierstunde, an jede Träne, weil ich nicht gut genug war und an den Tag, an dem ich auszog und das Klavier nicht mitnehmen wollte obwohl es mein Abschiedsgeschenk war. Trotzdem war ich von dem Glanz des Instrumentes so begeistert, dass ich mich zu ihm hinsetzte. Meine Finger schwebten Millimeter über den Tasten, berührten sie nicht. Mein erstes Lied war nicht alle meine Entchen, mein erstes Lied war Summ, summ, summ gewesen. Es war das erste Lied, das ich gespielt hatte, meine erste Erinnerung an dieses Instrument. Ich konnte es in und auswendig spielen. Spielen tat ich trotzdem nur mein erst genanntes Lied, weil ich mich nicht mehr sicher fühlte. Ich fühlte mich so, als hätte ich jedes einzelne Lied verlernt, als hätte ich nie auf mini Konzerten gespielt, als wäre ich nicht in einem Orchester gewesen. Ich fühlte mich, als hätte ich noch nie in meinem ganzen Leben auch nur eine Taste gedrückt und fing trotzdem an zu spielen. Irgendwann ging wieder alles von selbst und ich spielte die Melodien, die mir in den Kopf gingen, spielte jede ohne den dazugehörigen Namen zu kennen.

"Laska, Laska, ach meine liebe Laska." Wie aus dem Nichts stand Carlo plötzlich mit einem fetten Grinsen hinter mir, legte seine Hände auf meine Schultern und ließ mich erschrocken zusammenzucken. "Wo ist das Gefühl? Klavierspielen ist nicht gleich Klavierspielen, diese Lieder könnten viel schöner klingen", behauptete er ohne dass ich ihm eine Sekunde meinen Glauben schenkte. Ein Lied war ein Lied, es brauchte eine gute Melodie und keine Gefühle. "Ach ja?" Skeptisch drehte ich mich in seine Richtung, ignorierte die Tatsache wie süß er gerade aussah. Er erinnerte mich irgendwie an einen Bären mit seiner zerzausten Frisur und verschlafenen Blick. Normalerweise war ich nicht so, weder bei einen der letzten Treffen mit einem Kerl oder bei einen der ersten. In diesem Moment allerdings war ich wahnsinnig Nervös, wendete meinen Blick in Rekordzeit von ihm ab, probierte ihm nicht in die Augen zu sehen. Bären wurden dann nämlich aggressiv und ich verlor gerade sowieso all meine Sinne.
Einzelne Strähnen lösten sich aus meinem Zopf, ich strich sie hinter mein Ohr, sah zu wie er neben mir Platz nahm und anfing zu spielen. Summ, summ, summ ertönte, wurde mit anderen Liedern vermischt, bis er eine völlig andere Melodie spielte. Nicht einmal sah er zu mir, obwohl er die Lieder aus dem Kopf heraus spielte.
All die Töne, die er spielte, war schöner, als jedes Lied, welches ich je zuvor in meinem Leben gespielt hatte. Und plötzlich hatte ich den Grund gefunden, warum ich trotz Tagelangem üben keinen Erfolg erzielte. Mir ging es nicht um die Musik.
Ganz klar, ich hätte weiterhin behaupten können, dass es sich gleich anhörte, dass tat es aber nicht. "Krass", flüsterte ich und sah wie sich seine Hände vom Piano entfernten, seine Augen auf meine trafen. Erwischte ich mich doch gleichzeitig dabei, wie ich mir einen Kuss von ihm erhoffte. Mittlerweile war ich mir nicht einmal sicher, ob ich je nur mit ihm befreundet sein wollte. Vorsichtshalber wendete ich mich von jedem ab und das war auch gut so. Herzschmerz tat so unglaublich weh. Unsere große Liebe konnte unser jetziger Gegenüber nicht sein. Wir hatten keine Zeit. Dass wusste er anscheinend auch. Plötzlich stand er auf und schaltete die Musikanlage an. Die Boxen ließen das ganze Haus beben, als wolle er die Trostlosigkeit des Liedes vergessen oder diesen Moment der Stille, welche während unseren Blickkontaktes herrschte.
Dann gab es in diesem Moment eben keinen Themenwechsel, sondern einen Musikwechsel und er ließ den ganzen Kummer für einen Moment verschwinden.

Seine Stimme hallte durch den Raum. Carlo sang, er sang die Lieder mit und forderte mich auf dasselbe zu tun. "Sing mit" Kurz darauf befand er sich auf dem Wohnzimmertisch , hielt mir seine Hand entgegen und zog mich hoch, nahm das Mikro, welches auf ihm lag auf, wiederholte seine Bitte und warf es mir zu. "Ich kann nicht singen!", schrie ich ihm gegen die Musik und sah seinen ungläubigen Blick. "Jeder kann singen, vielleicht nicht gleich gut, aber jeder kann es." Sachte hob er meine Hand mit dem Mikro hoch, sah mich lange an, bis er merkte, dass ich nicht für ihn singen würde. "Sing ganz blöd, ganz bescheuert, verstell deine Stimme, aber Laska, sing. Bitte." Das Mikro in meiner Hand war unglaublich schwer, ich sah auf es herab und öffnete meinen Mund.

Carlo, please stay tru. |Cro Ff|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt