„Oh my God“
Um die Mittagszeit stehen die beiden Agenten vor dem Haus von Aichas Eltern. Als sie klingeln und gleich darauf Aichas Mutter öffnet, fragen die Agenten, ob sie noch einmal mit Aicha reden können. Aichas Mutter antwortet trocken: „Meiner Tochter geht es wirklich schlecht. Wenn sie etwas rausfinden konnten, können Sie es mir sagen und ich werde es später behutsam meiner Tochter beibringen.“ Ausserdem weiss sie, dass man deutlich sehen kann, dass Aicha geschlagen wurde und sie möchte neugierige Fragen vermeiden. „Wir haben aber gute Neuigkeiten.“ sagt Agent Smith. „Was bitte soll an dem Tot meines Schwiegersohns positiv sein? Meine Tochter hat gerade versucht, sich umzubringen!“ fährt Aichas Mutter ihn an. „Sie verstehen nicht. Wir haben Herrn M. gefunden. Er lebt. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Wir können nicht sagen, wie schwer er verletzt ist, aber er war bei Bewusstsein. Er wurde aus dem Auto geschleudert, bevor es in Flammen aufgegangen war.“ erklärt Agent Hanes. „Oh my God!“ kommt es aus ihrem Mund, schlägt die Tür zu und rennt zu Aicha.
Als sie im Krankenhaus ankommen, ist Elyas noch immer im OP. Aber die Oberärztin versichert ihnen, dass es ihm den Umständen entsprechend gut geht. Er hat einen gebrochenen Arm, mehrer Rippenbrüche, eine Ghirnerschütterung und einen Milzriss. Es dauert noch eine weitere Stunde und Aicha und ihre Mutter dürfen zu Elyas in den Aufwachraum. Aicha kann ihn fast nicht wieder erkennen, überall sind Schläuche und Verbände. Er schläft noch, aber das regelmässig piepende Geräusch eines Monitors verrät, dass er stabil ist. Sie nimmt seine Hand, die mit kleinen Kratzern übersäht ist und streicht vorsichtig über seine Finger. Seine Augenlider beginnen zu zittern und ganz langsam bewegt er seinen Kopf. „Elyas, kannst du mich hören?“ fragt Aicha ganz sanft. „Hey, Prinzessin, wie geht´s dir und meinem Baby?“ zittert seine Stimme und versucht zu lächeln. Aicha hat Tränen in den Augen und sagt: „Uns geht es gut. Elyas, ich...ich dachte, du wärst tot. Ich wusste nicht mehr weiter. Ich könnte ohne dich nicht leben und ich wollte mich umbringen! Dad hat mich davon abgehalten.“ Elyas streicht ihr übers Gesicht, und wischt ihr die Tränen weg. Zum Sprechen ist er zu schwach, deswegen nimmt er ihre Hand, streicht über ihre Finger und schliesst die Augen.
Als die Schwester ins Zimmer kommt, fordert sie Aicha auf, Elyas allein zu lassen, da er seine Ruhe braucht. Noch immer schluchzend steht sie langsam auf und geht aus der Tür. Dort steht ihr Vater und als sie ihn sieht, stürzt sie sich in seine Arme und weint laut los. Aichas Vater spricht leise: „Es tut mir so leid. Ich liebe dich über alles.“ Er berührt vorsichtig über ihr blaues Auge und Aicha antwortet: „Ich weiss, Dad. Ich liebe dich auch.“
Schon eine Woche später kann Elyas das Krankenhaus verlassen und wird von Aicha zu Hause verwöhnt. Bald fühlt er sich gut genug um mit ihr spazieren zu gehen oder die schönen warmen Tage in L.A. in Cafés zu geniessen. Den Gips am Arm muss er noch immer tragen und auch seine Rippen schmerzen noch, wenn er zu herzlich lachen muss, aber trotzdem ist er vollkommen glücklich und dankt Gott, dass er ihm einige Schutzengel geschickt hatte. Nur nachts liegt er oft wach und grübelt darüber nach, was wäre, wenn er wirklich tot wäre. Was würde Aicha ohne ihn machen? Was hätte er seinem Kind mitgegeben? Die Antwort lautet: „Nichts!“ Er springt aus dem Bett und läuft zum Computer und fängt an zu schreiben:
An meine Kinder:
Falls ich eines Tages nicht mehr für euch da sein kann, möchte ich euch Folgendes mit auf den Weg geben:
1. Jeder von euch ist ein wundervolles Geschenk Gottes, an eure Familie und an die Welt. Denkt immer daran - besonders, wenn Zweifel und Entmutigung euch einholen.
2. Habt keine Angst. Vor nichts und niemandem, wenn es darum geht, euer Leben voll auszukosten. Folgt euren Hoffnungen und Träumen, egal wie unerreichbar oder seltsam sie euch erscheinen mögen. Viel zu viele Menschen tun nicht das, was sie wirklich wollen, weil sie sich davor fürchten, was andere dazu sagen könnten. Denkt daran: Wenn diese Menschen euch keine Hühnersuppe ans Bett bringen, wenn ihr krank seid oder euch beistehen, wenn ihr Probleme habt, dann spielen sie keine Rolle in eurem Leben. Meidet diese sauerlaunigen Pessimisten, die sich eure Träume anhören und sagen: „Ja, aber was, wenn..." Zum Teufel mit „Was, wenn"! Tut es. Das Schlimmste im Leben ist, zurück zu schauen und zu sagen: „Ich hätte es getan, ich hätte es tun können, ich hätte es tun sollen." Geht Risiken ein, macht Fehler.
3. Alle anderen sind auch nur normale Menschen. Manche tragen schicke Hüte oder haben wichtige Titel oder sie haben (eine Zeit lang) Macht. Sie wollen, dass ihr sie für etwas Besseres haltet. Glaubt ihnen nicht. Sie haben die gleichen Zweifel, Ängste und Hoffnungen; sie essen, trinken, schlafen und furzen wie jeder andere. Hinterfragt Autoritäten immer, aber stellt euch dabei klug und vorsichtig an. Macht eine Liste mit allen Dingen, die ihr in eurem Leben tun wollt: Reisen, eine besondere Fähigkeit lernen, jemand besonderen treffen.
4. Macht eine lange Liste und hakt jedes Jahr ein paar Punkte davon ab. Sagt nicht: „Das mache ich morgen" (oder nächsten Monat oder nächstes Jahr). So werdet ihr es nie tun. Es gibt kein Morgen und die einzig richtige Zeit, etwas zu tun, ist jetzt.
5. Seid freundlich und bemüht euch nach Kräften, anderen Menschen zu helfen, besonders den Schwachen, den Ängstlichen und Kindern. Jeder trägt eine Sorge mit sich herum, und diese Menschen brauchen euer Mitgefühl.
6. Tretet nicht dem Militär bei oder irgendeiner anderen Organisation, die zum Töten ausbildet. Krieg ist böse. Alle Kriege werden von alten Männern begonnen, die junge Männer dazu zwingen, einander zu hassen und umzubringen. Die alten Männer überleben und beenden den Krieg auf die gleiche Art, wie sie ihn begonnen haben: Mit Stift und Papier. So viele gute und unschuldige Menschen sterben. Wenn Kriege wirklich so nobel sind - warum stehen diese Führer, die Krieg beginnen, nicht selbst auf dem Schlachtfeld und kämpfen?
7. Lest Bücher, so viele ihr könnt. Sie sind eine Quelle der Freude, der Weisheit und der Inspiration. Sie brauchen keine Batterien und keine Internetverbindung und sie können euch überall hinbringen.
8. Seid wahrhaftig.
9. Macht Reisen: Immer, aber besonders, solange ihr jung seid. Wartet nicht, bis ihr genug Geld habt oder bis es gerade gut passt. Das passiert nie. Holt euch heute euren Reisepass.
10. Wählt euren Beruf, weil ihr ihn liebt. Sicher, manche Dinge werden hart sein, aber ein Beruf muss Freude machen. Nehmt niemals eine Arbeit nur wegen des Geldes an - das wird eure Seele verkrüppeln.
11. Schimpft nicht. Das führt nie zum Erfolg und es tut euch und anderen weh. Jedes Mal, wenn ich geschimpft habe, bin ich gescheitert.
12. Haltet immer die Versprechen, die ihr Kindern gebt. Sagt nicht „mal sehen", wenn ihr eigentlich „nein" meint. Kinder erwarten die Wahrheit. Gebt sie ihnen - mit Liebe und Güte.
13. Sagt niemals jemandem, dass ihr ihn liebt, wenn ihr es nicht tut.
14. Lebt im Einklang mit der Natur, geht nach draußen, in den Wald, in die Berge, ans Meer, in die Wüste. Das ist wichtig für die Seele.
15. Umarmt die Menschen, die ihr liebt. Sagt Ihnen, wie viel sie euch bedeuten. Wartet nicht, bis es zu spät ist.
16. Seid dankbar. Es gibt ein Sprichwort: „Das ist ein Tag in unserem Leben und er wird nicht wieder kommen." Lebt jeden Tag mit diesem Gedanken.*
Er druckt den Text aus, faltet das Blatt Papier und steckt es in einem Umschlag. Mit dem Umschlag in der Hand läuft er hin und her und überlegt, wo er ihn hinstecken kann. Am Ende entscheidet er sich für die Seitentasche seiner Burberry-Tasche, die er immer auf Reisen mitnimmt. Er ist totmüde, aber lächelt zufrieden und legt sich zurück ins Bett, kuschelt sich an Aicha und streichelt ihren immer noch flachen Bauch.
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*Quelle: http://www.huffingtonpost.de/ann-brenoff/der-letzte-brief-eines-gr_b_5027344.html?utm_hp_ref=fb&src=sp&comm_ref=false