„Ich kann den Schmerz nicht ertragen!“
Aichas Vater öffnet die Tür des Schlafzimmers und überrascht Aicha, wie sie die Patronen in die Waffe schiebt. Sie sieht auf, guckt ihren Vater entgeistert und mit tränennassen Augen an und brüllt: „Komm keinen Schritt näher!“ Einige Patronen sind schon in der Waffe und sie hält sich die Pistole mit zitternden Händen an den Kopf. Auch ihr Vater zittert, steht wie angewurzelt in der Tür und spricht leise: „Aicha, bitte, leg die Waffe weg. Das kannst du nicht machen. Denk an uns, deine Familie. Das kannst du uns nicht antun. Wir lieben dich und wir werden dir helfen. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Du trägst Elyas Kind im Bauch und er würde das nicht wollen. Er wollte immer, dass du glücklich bist!“ Aichas Tränen fliessen wie in Strömen und sie zittert immer stärker; dabei springt ihr Finger auf dem Abzug auf und ab. Kaum verständlich spricht sie: „Ich kann ohne ihn nicht leben und ich möchte nicht, dass sein Kind ohne Vater aufwächst. Ohne ihn werde ich nie...nie wieder glücklich sein. Er hat mir gezeigt, was Glück bedeutet und jetzt ist alles vorbei. Mein Leben ist vorbei! Es tut mir Leid, aber ich kann nicht. Ich...ich kann den Schmerz nicht ertragen!“
Inzwischen taucht Aichas Mutter hinter ihrem Vater auf und geht langsam auf sie zu. „Bleib stehen!“ droht Aicha. „Bitte, Aicha, lass uns reden. Dein Leben ist nicht vorbei. Ich weiss, es tut weh. Aber das geht vorbei und wir sind für dich da!“ Aicha schliesst du Augen, schluchzt ein letztes Mal, hält die Waffe wieder an ihren Kopf und drückt mit dem Finger auf den Abzug.
In dem Moment springt Aichas Vater ihr entgegen, stöst die Waffe weg, ein Schuss löst sich und das Fenster zerbricht mit einem lauten Knall. Aicha findet sich auf dem Boden wieder und ihr Vater kniet über ihr. Sie versucht zu entkommen, schlägt um sich und kreischt: „Lass mich los! Lass mich gehen! Ich kann nicht mehr!“ Er hält sie an ihren Armen fest, drückt sie nach unten und schreit sie an: „Reiss dich zusammen und komm zur Vernunft! Das ist es nicht Wert!“ In diesem Moment verliert er die Kontrolle, packt ihre Schultern, zieht sie kurz nach oben und stöst sie zurück, sodass ihr Kopf mit einem dumpfen Schlag auf den Boden knallt. Mit der flachen Hand schlägt er sie mehrmals ins Gesicht, bis Aichas Mutter kommt und ihn von ihr zieht. Erschrocken gucken sich alle an und Aicha bleibt reglos liegen. Sie blutet aus Nase und Mund und hat eine Platzwunde am Hinterkopf. Ihr Mutter ruft immer wieder ihren Namen, bis Aicha die Augen auf sie richtet und leise schluchzt. Sie hilft ihr auf und führt sie in ihr Zimmer. Aichas Vater will helfen und sie stützen, aber ihre Mutter stöst ihn weg und sagt wütend: „Wag es nicht, sie anzufassen!“
In Aichas Apartment versorgt ihre Mutter die Wunden. Sie sind nicht gross und schnell hört es auf zu bluten. Aichas schweigt und starrt ins Leere. Für sie war ihr Vater immer ihr Beschützer. Sie kam immer zu ihm, wenn sie Probleme hatte und er war der sanfteste und verständnisvollste Mensch der Welt. Nie ist er ausgerastet oder war wütend. Sie kann es nicht glauben, dass er sie geschlagen hat. Plötzlich bricht ihre ganze Welt auseinander. Nichts ist mehr so wie früher. Sie legt sich ins Bett und vor ihren Augen verschwimmt alles. Sie will nichts essen, nichts trinken, sie will einfach nur aufhören zu existieren.
Nach ein paar Stunden kommt ihr Vater ins Zimmer, setzt sich zu ihr ans Bett, hält ihre Hand und spricht ganz sanft: „Aicha, es tut mir so Leid. Du weisst, dass ich dich unendlich liebe. Ich weiss nicht, was in mich gefahren ist. Ich wollte doch nicht, dass du dich umbringst. Was soll ich denn ohne dich machen? Bitte, verzeih mir!“ Aicha hört ihm zu, starrt aber noch immer an die Wand. Nach einer halben Ewigkeit formen ihre Lippen drei Worte: „Bitte, geh weg!“ Aichas Vater hat Tränen in den Augen, steht aber auf und verlässt das Zimmer. Draussen vor der Tür stützt er sich an die Wand, geht in die Knie, schlägt die Hände vors Gesicht und weint unaufhörlich.