Kapitel 10

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Kainan

Hinter ihm rumpelte es laut. Seth stand vor ihm, doch bevor er sich umdrehen, an ihm vorbeigehen und sehen konnte, was das Geräusch verursacht hatte, hörte er dessen schockiertes Aufatmen. Keinen Augenblick später fiel auch ihm selbst fast die Kinnlade runter. Denn da, mit einer etwas verdrehten Haltung im Umhang verfangen, hockte die Heilerin mit dem Rücken halb an die Holzkiste gelehnt... und fast schneeweiß wirkende Haare fielen ihr locker geflochten über den Rücken und berührten mit den Spitzen den Holzboden. Er traute seinen Augen nicht. Er blinzelte zweimal, als wäre das, was sich eindeutig vor ihm befand nur ein Trugbild und nicht das, was es tatsächlich war. Das Mädchen vom Bach. Aber woher sollte Seth... seine Reaktion... In seinem Kopf machte etwas 'klick'. Verdammt, das konnte doch nicht wahr sein!... Nur war leider kein Zweifel mehr möglich. Das Waldmädchen vom letzten Abend im Wald, die Heilerin hier und das Mädchen, welches ihn am Bach gewissermaßen interessiert hatte, waren ein und dieselbe Person. Wie konnte er nur so blind gewesen sein, dass er dies nicht erkannt hatte? Wie dumm? Dämlicher Schwachkopf, schimpfte ihn eine leise Stimme. Zurecht, wie er sich nur widerwillig eingestehen konnte. Zusätzlich zu der Last, welche sie für ihn, Seth und Zach bedeutete, hatten sie auch noch ein weiteres Problem mehr, welches ihm innerhalb von Sekunden bewusst wurde. Nämlich eine kleine Heilerin, die schlau genug war, diese Situation der Verwirrung und Erkenntnis zu nutzen um abzuhauen!

Miranda

Noch als sie die Schockstarre der beiden Männer ausnutzen wollte und an ihnen vorbei schnellstmöglich durch die Tür verschwinden wollte, schien dem Schwarzhaarigen ihr Vorhaben aufzufallen, denn innerhalb weniger Sekunden stieß er den Anderen an und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Der Blonde lief um sie herum und bevor sie reagieren konnte, war sie zwischen den beiden Männern und der Holzkiste gefangen. Der Schwarzhaarige stand fast direkt vor ihr, der Blonde ein paar Schritte hinter ihr. Sie fühlte sich wie ein von Wölfen umzingeltes Reh. Sie mied den Blick des Mannes vor ihr, der dunkle, hölzerne Dielenboden schien ihr plötzlich furchtbar interessant. Ihre Gedanken rasten. Im Grunde hatte sie keine Chance, außer... Unter ihrem Umhang, der noch um ihre Schultern hing, tastete sie nach dem Dolch in ihrer Tunika. Sie wägte Für und Wieder gegeneinander ab, bis sie die Hand wieder sinken ließ. Sollten alle Stränge reißen, würde sie auf ihren Instinkt vertrauen. Doch bis dahin scheute sie die Richtung, in welche ihre Gedanken, wenn sie den Dolch in der Hand hielt, gingen. Sie sah sich im Raum um, ohne zu wissen, ob und nach was sie suchen oder Ausschau halten sollte. Warum bin ich nur so hilflos?, dachte sie frustriert, mit einem leichten Anflug von Wut. Ihr Blick blieb bei einem völlig überfüllten Regal an der Wand ihr gegenüber hängen. Eine große Mistgabel war an das Regal angelehnt. Zwar war eine Metallzacke abgebrochen und die daneben verbogen, aber besser als nichts... Für ihre Zweck würde es reichen müssen. Von ihrem Umhang würde sie sich wohl verabschieden müssen, der war ihr im Weg wenn sie sich bewegte. Langsam machte sie einen Schritt vorwärts. Sie merkte, wie der Mann hinter ihr ebenfalls einen machte, ebenso wie der andere. Gewiss recht ironisch, dass der Dritte im Bunde nach wie vor sein Schläfchen hält. Den scheint ja wirklich nichts zu wecken, dachte sie ohne sich zu beschweren, da dies ihr zugunsten kam. Sie schielte nach hinten, schätzte den Abstand zwischen ihr und dem Kerl ab, bevor sie die Schließe des Umhangs öffnete und diesen flatternd zu Boden fallen ließ. Kurz stockte sie, dachte noch einmal nach, bevor sie angespannt noch einen Schritt vorwärts trat und ihr beide Männer gefährlich nah waren. Ohne sich ein weiteres Zögern zu erlauben ging sie etwas in die Knie und nahm wie von selbst die Haltung an, die ihr endlose male eingeschärft wurde. Es war erschreckend mühelos, ihr Gewicht zu verlagern, die Tritte zu wiederholen, die ihr Vater ihr beigebracht hatte, auch wenn es sie erschreckte, mit welcher Leichtigkeit sie die Bewegungen ausführte. Man hätte meinen sollen, dass sie diese trotz jahrelanger Übungspause verlernt hätte, doch die überraschten Gesichtsausdrücke der Männer sagten etwas anderes, als sie dem Blonden hintereinander mehrmals den Fuß in die Bauchgegend stieß, sich drehte und tiefer auf die Kniekehle des anderen zielte, sodass sein Bein einknickte. Leider längst nicht fest genug, als dass er auf dem Boden landete, aber ausreichend um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch natürlich, zu schön wäre es gewesen, hatte sie nicht allzu viel kraft gehabt und kaum etwas ausgerichtet. Im Gegenteil, die Beiden standen direkt vor ihr und schienen alles andere als glücklich aus. Eher im Gegenteil. Wie ein Reh im Angesicht eines Wolfrudels wurde sie in die Ecke gedrängt, allerdings in die, in deren Richtung die Mistgabel stand. Nur ein paar Schritte zur Seite dann konnte sie den Arm ausstrecken und... blitzschnell schnappte sie nach dem dicken Holzgriff, wobei sie sich mehrere Splitter in die Haut ihrer Handfläche bohrten, was sie ignorierte. Möglichst bedrohlich schwang sie die Mistgabel und schlug sie dem Blonden in die Seite, wobei sie das Gleichgewicht verlor und nach vorne stolperte. Der Blonde taumelte ein wenig und machte ihr damit den  Weg zur Tür frei. Hektisch drängte sie sich an ihm vorbei, doch sie unterschätzte die Schnelligkeit des Schwarzhaarigen. Mit drei langen Schritten stand er hinter ihr, griff über ihren Kopf hinweg die Mistgabel und presste ihr den Holzstab mit einer unfassbar schnellen Bewegung an den Hals. Sie zappelte wie ein gestrandeter Fisch, doch je mehr sie sich wehrte, desto näher kam sie ihm und machte es ihm leicht sie festzuhalten. Ein kurzer Ruck seinerseits und sie lehnte mit dem Rücken an seinen Oberkörper gedrückt ihrer Bewegungsfreiheit beraubt da. Das Holz kratzte unangenehm an ihrer Haut und der Druck erschwerte ihr das Atmen. Eine weitere Welle der Panik brach auf sie ein und sie spürte das Pochen ihres Herzens in ihren Schläfen. Wieder versuchte sie sich loszureißen, bewirkte damit jedoch nur, dass der druck auf ihrem hals sich erhöhte und ihre Atmung immer flacher wurde, bis sie meinte, Sterne tanzen zu sehen. Ihre beine zitterten, was den beinahe vergessenen Dolch gegen ihre Hüfte stoßen ließ, dessen Griff sie mit der Hand ertastete. Obwohl es ihr zuwider war, diesen zu benutzen, so hatte sie noch weniger Lust, in Ohnmacht zu fallen. Das war sie noch nie und würde sie auch nicht! Und mit etwas Glück brauchte sie den Mann gar nicht ernst zu verletzen. So wie sie den Dolch gerade in ihrer Hand hielt, zeigte der lederumwickelte Griff genau dorthin, wo sie seinen Bauchbereich hinter sich vermutete. Der Überraschungsmoment würde auf ihrer Seite seien und wenn es ihn auch nur für Sekunden ablenkte und seinen Griff lockerte, war es für sie dennoch genug Zeit um zur Tür zu gelangen. Ab da war ihr unklar was sie tun sollte, aber solange sie nur hier rauskam, war es ihr egal und sie überließ ihrem Instinkt das Ruder. Ihr würde schon irgendwas einfallen. Nicht unbedingt der ausgeklügelste Plan, aber besser als tatenlos wie eine Statue dazustehen. Ziemlich viel Optimismus in Anbetracht der Situation, in der du gerade steckst, kommentierte ihre innere Stimme, welche sie geflissentlich ausblendete. Sie musste sich beruhigen, den Anschein erwecken, dass sie nachgab. Ihre Finger umfassten den Dolch fester, es war schwierig ihren Körper dazu zu bringen, stillzustehen und ihre angespannten Muskeln zu lockern. Wenn dieser Trick bei Raubtier und Beute funktionierte, warum dann nicht auch bei ihr. Die Umstände waren zumindest ähnlich. Tatsächlich spürte sie, wie sein Griff nachließ und der Holzstab der Mistgabel weniger Druck ausübte, sodass sich ihr Atem normalisierte. Nur noch ein bisschen mehr... sobald er seine Arme ein kleines Stück sinken ließ, rammte sie die stumpfe Spitze des Dolchgriffes seitlich nach hinten, dahin wo sich sein Bauch befinden müsste. Hoffentlich traf sie nicht daneben, denn dann hatte sie ein Problem und der Überraschungseffekt war völlig nutzlos. Das schmerzhafte Keuchen seinerseits allerdings verriet ihr, dass sie richtig gezielt hatte. Sie hatte keine Zeit für einen Triumph, denn sie hatte es sich eilig unter der Mistgabel hindurch zu ducken und sich auf noch wackeligen Beinen von ihm weg zu kämpfen. Der Blonde, welcher sich aufgrund ihres Seitenhiebes die linken Rippen hielt, versuchte ihr den Weg zu versperren, war jedoch zu langsam um sie aufzuhalten. Als sie die Tür erreichte, warf sie unbewusst einen kurzen Blick zurück. der Schwarzhaarige stand gekrümmt da, der Blonde etwas an die Wand gelehnt und hinter den Regalen sah sie nach wie vor die groben Umrisse des Rothaarigen, der noch immer zu schlafen zu schien. Ein Kunststück für sich. Die Tür klemmte ausgerechnet als sie diese öffnen wollte und mit soviel Kraft, wie sie aufbringen konnte, stieß sie diese mit der Schulter auf. Den Schmerz, der dabei in ihren Arm schoss, ignorierend stolperte sie nach draußen. Sobald sie die Tür wieder zu gerissen hatte, versperrte sie diese von außen bestmöglich mit einem herumstehenden Besen, den sie davor klemmte. Lächerlich, aber je mehr Zeit sie gewinnen konnte, desto besser. Gerade als sie sich hektisch umsah und überlegte, was sie nun tun sollte und wie sie möglichst schnell verschwinden konnte, hörte sie wie die Tür laut knarzte. Das grobe Holz wirkte nicht unbedingt sehr stabil, lange würde es also nicht dauern, bis es nachgab. Es rumpelte laut und sie sah schon vor sich, wie die Tür zerbarst und der Besenstiel zerbrach. Ihr umherhuschender Blick blieb an den drei noch gesattelt und getrensten Pferden hängen, die an einen senkrechten Pfosten gebunden waren und träge auf dem Boden liegendes Stroh fraßen. Worauf wartest du denn?, drängte sie ihre innere Stimme. Sie haderte mit sich. Wann hatte sie das letzte Mal auf einem Pferd gesessen? Bei ihrem Glück fiel sie runter, noch bevor sie aufgesessen war. Es rumpelte ein weiteres Mal hinter der Tür, diesmal noch lauter. Sie rannte auf das erstbeste Pferd, einen Fusch mit weißgrauer Schnauze, zu und zerrte an dem Seil, mit welchem er angeknotet war. Der Knoten wollte sich einfach nicht lösen lassen. Kurzerhand wickelte sie den Dolch aus den Stofffetzen, durchtrennte das Seil und verstaute ihn wieder in ihrer Tunika. Das Pferd war groß, die Steigbügel zu lang eingestellt und ihre Finger zitterten. Nach mehreren Anläufen, welche ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, schwang sie sich auf den Pferderücken und griff nach den Zügeln, die über dem langen Pferdehals gelegen hatten. Kaum, dass sie das Pferd angetrieben hatte, knackte es laut, polternd flog die knarzende Tür auf und die drei Männer kamen heraus. Der Rothaarige, welcher noch ziemlich verschlafen wirkte, entdeckte sie, als sie antrabte und unter dem Stallvordach auf die gepflasterte Straße ritt. Seine Stimme wurde fast von den Geräuschen der Pferdehufe auf dem Pflasterstein übertönt, dennoch hörte sie wie er ,, He, das ist mein Pferd! Sie verschwindet mit meinem Pferd!", rief. Er klang wie ein kleiner Junge, dem man sein Spielzeug wegnahm. Die Stimmen der Männer, die ihr zuriefen, dass sie gefälligst stehen zu bleiben hatte, wurden leiser und gingen in den rhythmischen Hufklängen unter. Sie drehte sich im Sattel um, doch die drei schienen noch zu diskutieren. Worüber wusste sie zwar nicht, doch war es ihr redlich egal, machte dies ihr das Wegkommen doch leichter. An der nächsten Straßenecke lenkte sie das Pferd auf einen der Hohlwege zwischen den Häusern. Erst als sie nach einem weiteren Blick hinter sich weder die Straße, noch die Kerle sehen konnte, löste sich ein kleiner Teil ihrer innerlichen Anspannung. Sie legte den Kopf in den Nacken und die bereits schwächer werdenden Sonnenstrahlen schienen ihr ins Gesicht. Es war ihr gar nicht aufgefallen, wie schnell die zeit vergangen war. Die gewisse Ironie des Tages ließ sie auflachen, doch sie verstummte gleich darauf wieder. Noch am Morgen als das Wetter und ihr Befinden ihrer Meinung nach nicht mehr viel scheußlicher hatten werden können, hatte ihr das Schicksal das Gegenteil bewiesen. Dennoch, morgen würde sie mit Huberts Hilfe aus dem Dorf verschwinden, alles wie schon sooft hinter sich lassen und keine Gedanken an diesen Tag mehr verschwenden. Die Wahrscheinlichkeit dass die Ereignisse sie einholen würden, war daher gering, ebenso ein weiteres Zusammentreffen mit den Kerlen, so hoffte sie zumindest. Und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.


Witches Soul *vorübergehend pausiert* #iceSplinters19 #WaveAward2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt