Vernebelte Sinne

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„Ist dir kalt?"

Die Worte rissen mich aus der Tiefe seiner Augen und brachten mich zurück auf den Boden der Realität.

„Was?", fragte ich perplex und blinzelte ein paar Mal.

Seine Mundwinkel zuckten kurz und ohne erneut zu fragen, griff er nach meiner Hand. Sofort war wieder dieses komische Gefühl in meiner Magengegend, das mich verzweifeln ließ, weil ich es nicht genau identifizieren konnte. Vielleicht war es so etwas wie Zuneigung oder Vertrauen, doch kaum war der Gedanke in meinem Kopf, erinnerte ich mich daran, dass er mein Entführer war und ich eigentlich Angst haben sollte.

Doch ich musste mir eingestehen, dass ich keine Angst hatte.

Während ich meinen Gedanken nachhing, zog Nils mich die massiven Holztreppen hoch und wir betraten die Sonnendurchflutete Wohnung. Doch das nahm ich alles nur am Rande wahr. Irgendwas zog meine Blicke auf Nils, der immer wenn ich ihn von der Seite sah, lächelte. Gleichzeitig versuchte ich das komische Gefühl, das ich dabei hatte, auszustellen und mich auf was anderes zu konzentrieren. Allerdings gelang es mir nicht, denn das Verdrängen hatte ich verlernt, als ich mich auf meine Entführer eingelassen habe und deren Gesichte kennen gelernt hatte. Sie waren nicht länger zwei Gestalten mit einer Maske. Langsam bekamen sie Gesichter und eine Geschichte die dazugehörte.

„Hier."

Tranceartig starrte ich auf die Klamotten die Nils mir hinhielt. Verwirrt griff ich danach und schaute ihn fragend an. Ein kleines Lachen entfuhr ihm, woraufhin er mich an den Schultern packte und sacht rüttelte.

„Hallo. Erde an Franzi."

„Ich bin doch da", sagte ich leicht empört und drückte die Klamotten enger an mich. Erneut grinste er mich an und schüttelte leicht seinen Kopf, wobei seine blonden Haare leicht in sein Gesicht fielen.

„Los geh duschen", wies er mich lachend an. Ich verdrehte meine Augen und wandte ihm den Rücken zu. In aller Ruhe lief ich von dem Schlafzimmer, durch das Wohnzimmer in den langen Flur, an dessen ende sich die Tür in die Freiheit befand.

Doch ich spürte nicht den Hauch eines Drangs diese Tür zu öffnen und zu fliehen. Sie kam mir mittlerweile eher wie eine Bedrohung vor, als wie eine Hilfe. Ich griff nach der kalten Türklinke der Badezimmertür und drückte diese herunter. Langsam trat ich in das große Badezimmer und schloss die Tür hinter mir. Genau wie der Rest der Wohnung, oder des Baumhauses, war dieser Raum hell erleuchtet von warmen Sonnenstrahlen.

Ich ging in die mitte des Badezimmers und blickte zur Seite. Ein braunhaariges Mädchen starrte mich nachdenklich an. Ihre grün-braunen Augen waren freundlich und in ihnen lag der ungewohnte Ausdruck von Vertrauen. Ihre Haare waren zerzaust und sahen schrecklich aus. Ihre Klamotten waren dreckig und sie presste ein Bündel Baumwolle eng an sich. Ihre geschwungenen Lippen waren leicht geöffnet und ihre Nase, die leicht krumm war, deutete auf das hin, was sie durchgemacht hatte.

In einer ihrer Halsbeugen war eine kleine Narbe, die nicht sofort zu erkennen war. Sie war im vergleich zu früher abgemagert, sodass ihre Knochen sich auf ihrer Haut abzeichneten. Und doch wirkte sie glücklich. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass ich mich in einem Spiegel betrachtete. Vorsichtig hob ich meine Hand und strich mir eine lange Strähne aus dem Gesicht. Ich hatte bei diesem Anblick von mir selber Angst zu zerbrechen.

Mir war nie aufgefallen, wie stark ich in den letzten Jahren abgenommen hatte.

Ich zog mir das Hemd von Nils aus und das Shirt das ich darunter trug. Ich drehte mich ein wenig und betrachtete meine blauen Flecken, die langsam verblassten. Doch sie waren immer noch da und leider immer noch zu stark. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ich sah aus dem Augenwinkel, wie Nils mit geöffnetem Mund in der Tür verharrte.

Entführt - Gerettet aus der HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt