Kapitel 11

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Stöhnend zog ich mir meine Decke über den Kopf. Mein Wecker hatte soeben geklingelt und so leicht wie es mir gestern gefallen war, einzuschlafen,  so schwer fiel es mir jetzt, aufzustehen.  Erst recht,  als mir einfiel,  was heute für ein Tag war: Heute war das Jubiläum von Annies Restaurant und das bedeutete für mich, dass ich kellnern musste. Gerade als ich mich umdrehen wollte,  piepste mein Wecker erneut und ich schaltete die Schlummerfunktion ein zweites Mal an. Irgendwann sah ich jedoch ein,  dass ich nicht den ganzen Tag im Bett liegen bleiben konnte,  sosehr ich es mir auch wünschte und setzte mich gähnend auf die Bettkante. Gegenüber von mir hingen die Klamotten,  die Annie mir für heute gegeben hatte und warteten nur darauf,  angezogen zu werden. Schnell warf ich einen Blick auf meine Uhr und erschrak. Viel Zeit blieb mir nicht mehr übrig.  In Höchstgeschwindigkeit raffte ich meine Sachen zusammen und machte mich auf den Weg ins Bad.

Kaum eine Dreiviertelstunde später stand ich an der U-Bahnstation,  an der ich Sam zum ersten Mal begegnet war und wartete auf den nächsten Zug,  der mich zum Restaurant bringen sollte. Als er dann endlich kam, suchte ich mir einen freien Platz und versuchte vergeblich,  meine aufkommende Panik zu verdrängen. Ich setzte meine Kopfhörer auf und schloss zu den Klängen von Avicii die Augen. So verrückt es auch klingen mag, dabei konnte ich mich am besten entspannen. Nach drei Stationen setzte sich eine Frau mir gegenüber. Sie trug eine Brille und hatte dunkle,  schulterlange Haare,  die leicht von grauen Strähnen durchzogen waren. Ich konnte nicht sagen woher,  aber aus irgendeinem Grund kam sie mir bekannt vor. Doch ich verwarf den Gedanken wieder und versuchte,  mich an den Weg zum Restaurant zu erinnern.  Nur wollte mir der nicht mehr so recht einfallen.  Hastig durchwühlte ich meine Tasche,  um auf meinem Stadtplan nachzuschauen.  In genau diesem Moment machte die U-Bahn eine Vollbremsung und meine gesamten Sachen verstreuten sich auf dem Boden.  Verzweifelt sah ich mich um. Beim nächsten Halt musste ich aussteigen. "Entschuldigung?", wandte ich mich an die Frau,  die sich mittlerweile hinter ihrer Zeitung verschanzt hatte. "Können Sie mir vielleicht helfen?  Ich muss bei der nächsten Station raus und ich weiß nicht,  ob ich das alles hier schaffe..." Knisternd verschwand die Zeitung vor ihrem Gesicht.  "Keine Sorge, das schaffen wir schon", meinte sie mitfühlend und tätschelte meine Schulter.  Anscheinend musste ich hilfloser ausgesehen haben,  als ich vermutet hatte. Gemeinsam mit ihr begann ich, die Gegenstände aufzusammeln und wieder in meine Tasche zu stopfen. "Wo musst du denn hin?", fragte die Frau und warf meine Wasserflasche auf den Sitz.  "Hierhin", antwortete ich und reichte ihr die Visitenkarte von Annies Lokal,  die sie mir vorsichtshalber mitgegeben hatte. "Kennen sie zufällig den Weg dahin?  Ich bin nämlich noch nicht lange in New York und muss gleich beim Kellnern aushelfen. Die haben doch heute Jubiläum und das ist auch eigentlich nur ein Aushilfsjob,  weil die eigentliche Kellnerin krank ist. Dabei weiß ich doch gar nicht ob ich das auch kann.  Ich hoffe,  ich schaff das!" Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen,  sah ich betreten zu Boden. Es war normalerweise nicht meine Art,  wildfremden Menschen so viel auf einmal anzuvertrauen.  Aber die Frau lächelte nur und stand auf. "Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dich hin, zufälligerweise muss ich  nämlich auch in die Gegend." Sie drückte mir meinen Geldbeutel in die Hand. "Michelle", sagte sie und lächelte. Irgendwoher kannte ich den Namen.  "Sarah", gab ich zurück und erwiderte ihr Lachen. Plötzlich fiel mein Personalausweis aus dem Portemonnaie und sie bückte sich,  um ihn aufzuheben.  Als sie ihn mir geben wollte,  warf sie einen kurzen Blick darauf und ihr Atem stockte. Sie hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Erst jetzt bemerkte ich,  dass darin Tränen schimmerten und den gleichen Braunton hatten wie meine.  "Sarah", flüsterte sie, "ich habe überall nach dir gesucht." Ehe ich etwas erwidern konnte,  zog sie mich in ihre Arme und plötzlich wusste ich,  warum ich das Gefühl hatte,  sie schon einmal gesehen zu haben.

Michelle war meine Tante.

Next Station: New York City *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt