Kapitel 13

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Ich hatte die Tür noch nicht bis zur Hälfte geöffnet,  da stürmte Annie schon auf mich zu und warf mir eine weiße Schürze zu - das einzige Kleidungsstück, das mir noch fehlte. "Los,  zieh dich an. Die Gäste kommen schon in einer Viertelstunde", sagte sie ohne irgendeine Begrüßung.  Ich nahm ihr das nicht übel.  Im ganzen Restaurant herrschte hektisches Durcheinander: Annie verteilte die letzten Salz- und Pfefferstreuer,  Jem gestikulierte wild in der Küche herum und zwei Mitarbeiterinnen,  die ich nicht kannte,  wischten noch schnell über die Tische. Ehe ich etwas erwidern konnte schob Annie mich hinter die Bar und erklärte mir alles,  was man als Kellnerin so wissen sollte. Schon nach zwei Sätzen dröhnte mir der Kopf und die Viertelstunde,  die mir noch übrig blieb verflog wie nichts. Bald trudelten die ersten Gäste ein und besetzten einen Tisch am Fenster. Panisch sah ich mich um. Meine ganze,  mühevoll aufgebrachte Gelassenheit war völlig verschwunden. Am liebsten wäre ich einfach hinter dem Tresen stehen geblieben,  aber das war natürlich ausgeschlossen.  Annie drückte mir wortlos einen Stapel Speisekarten in die Hand und schob mich sanft vorwärts. "Das schaffst du", raunte Jem mir zu. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er hergekommen war. Aber er hatte Recht.  Ein paar Speisekarten tragen, das würde ich ja wohl noch hinbekommen!  Schnell zog ich noch mein Oberteil zurecht und straffte die Schultern, bevor ich so selbstbewusst wie möglich auf die Gäste zuging. Es handelte sich um ein älteres Pärchen,  das in ein inniges Gespräch vertieft war. Sollte ich sie jetzt einfach unterbrechen?  Hilfesuchend drehte ich mich um und sowohl Annie,  als auch Jem nickten aufmunternd. Ich räusperte mich. Beide hörten auf zu reden und sahen mich aufmerksam an. "Ähm,  Hallo", begann ich unsicher und hätte am liebsten einfach kehrt gemacht. "Hier sind die Speisekarten für Sie." In diesem Moment war ich mir nicht einmal sicher,  ob das die richtigen Worte waren. Aber sie lächelten nur,  griffen nach den Karten und ich begab mich wieder auf meinen Platz hinter der Bar. Annie klopfte mir anerkennend auf die Schulter.  "Das war doch richtig gut für den Anfang!" Verwundert warf ich ihr einen kurzen Blick zu. "Wirklich?" Sie nickte. "Wirklich. Frag sie mal, was sie trinken wollen." Ich zückte meinen Notizblock. "Okay." Kurze Zeit später hatte ich ihre Bestellung aufgeschrieben und belud nun das erste Mal in meinem Leben ein Tablett mit randvollen Gläsern.  Das würde ich auch noch auf die Reihe kriegen,  ich musste einfach.  Ich durfte Annie und Jem nicht enttäuschen.  Obwohl der Weg von der Bar bis zum Tisch nur wenige Meter lang war,  kam er mir vor wie eine Ewigkeit.  Vorsichtig balancierte ich das Tablett in meinen Händen und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Ich fühlte mich fast so wie in dem Alptraum,  den ich vorgestern hatte. Auch wenn ich nicht auf einem Seil entlanglaufen musste,  die Angst zu versagen war die gleiche. Deswegen war ich mehr als erleichtert, als ich endlich den Tisch erreicht hatte und das Tablett abstellen konnte. Das hätte ich schon einmal geschafft. "So,  bitteschön", sagte ich lächelnd und stellte die Gläser vor dem Paar ab. Eine Welle von Stolz erfüllte mich und als ich dieses Mal die Bestellung aufnahm hatte ich die leise Ahnung,  dass das Kellnern doch gar nicht so übel war,  wie ich am Anfang gedacht hatte.

Nach und nach kamen immer mehr Gäste und schon bald blieb mir keine Zeit zum Verschnaufen mehr. Die Küche versank langsam,  aber sicher in komplettem Chaos und es wurde immer schwerer, den Überblick zu behalten.  Trotzdem begann mir das Kellnern Spaß zu machen, was vielleicht auch daran lag,  dass bis auf ein paar vertauschte Bestellungen alles reibungslos verlaufen war. Es war ein tolles Gefühl,  gebraucht zu werden und in die zufrieden Gesichter der Kunden zu sehen, wenn ich die Rechnung brachte. Wie auch immer, der Tag ging viel schneller vorbei als ich erwartet hatte und auch wenn ich es ungern zugebe, war ich fast ein bisschen enttäuscht,  als die letzten Gäste das Lokal verließen. Jem wollte gerade die Tür zusperren,  als sich eine kleine Gruppe von Menschen näherte.  Zuerst dachte ich,  es handelte sich um weitere Kunden,  die die Öffnungszeiten falsch gelesen hatten. Doch als ich genauer hinsah,  erkannte ich lauter vertraute Gesichter. Millie,  Sophie,  Johnny,  Michelle.  Und Sam. Ich musste lächeln und vergaß fast,  wie sehr meine Füße vom Laufen wehtaten. Alle Menschen,  die mir hier in New York etwas bedeuteten waren gekommen,  um mir zu meinem  erfolgreichen Arbeitstag zu gratulieren.  Keine fünf Minuten später hatten Sam und Johnny ein paar Tische zusammengeschoben und Annie hatte ein paar Reste aus der Küche geholt.  "Danke, dass du heute da warst", meinte sie und ein dankbares Lächeln breitete sich auf ihrem runden Gesicht aus. "Das war das größte Geschenk seit langem,  das mir jemand gemacht hat." Ich winkte ab. "Keine Ursache." Ich glaube,  jetzt weiß ich was Isabelle mit Punkt 9 gemeint hatte. Mache jemandem ein Geschenk. Sie wollte,  dass ich einen anderen Menschen glücklich mache. Nicht durch einen Gegenstand,  den ich kaufe und dann verschenke. Sondern durch Taten und Worte. Meine beste Freundin hatte mich soeben auf den Gedanken gebracht,  dass es sehr wohl Dinge auf der Welt gibt,  die unbezahlbar sind. Und als ich in die strahlenden Gesichter meiner Freunde sah,  war ich mir zu hundert Prozent sicher,  dass sie Recht hatte.

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