Kapitel 12

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In genau diesem Moment hielt die U-Bahn. Ruckartig löste sich Michelle von mir und zog mich zum total überfüllten Ausstieg. Ich war immer noch richtig überwältigt von dem,  was gerade geschehen war und wenn sie nicht dabei gewesen wäre hätte ich die Haltestelle zweifellos verpasst.  War es nicht ein unglaublicher Zufall,  dass ich meine Tante ohne irgendeine Anzeige getroffen hatte? Oder war es Schicksal?  Bis heute weiß ich auf diese Frage keine Antwort und ich bin mir nicht einmal sicher,  ob ich darauf überhaupt eine Antwort haben will. Es war doch eigentlich völlig unmöglich, in einer Großstadt wie New York einen Menschen zu finden, den man nie zuvor gesehen hat. Ja,  ich war meiner Tante noch nie begegnet. Sie war die Halbschwester meiner Mutter und seit ich denken kann, haben die beiden nie miteinander telefoniert oder Briefe geschrieben. Geschweige denn,  dass sie sich gegenseitig besucht hatten. Erst mit meinem Beschluss,  nach New York City zu fliegen, wurde der Kontakt langsam wieder aufgerollt.  Das alles und noch viel mehr schoss mir durch den Kopf,  als Michelle mich durch die Menschenmenge zerrte. Woher nahm ich eigentlich die Sicherheit,  ihr zu vertrauen?  Vielleicht lag es daran,  dass sie in gewisser Hinsicht meiner Mutter ähnelte. Äußerlich waren es zwar nur die Augen,  die darauf hindeuteten, dass sie mit meiner Mum oder mir verwandt sein könnte. Aber  es war ihre Art,  die mich so vollkommen überzeugte. Aus irgendeinem Grund vertraute ich ihr. "Wann musst du denn da sein?", fragte sie mich,  als es um uns herum schon etwas ruhiger geworden war. Ich warf einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr.  "So in zehn Minuten etwa." Michelle verzog das Gesicht ein wenig.  "Könnte knapp werden. Jedenfalls wenn du den normalen Weg nimmst, aber ich kenne eine Abkürzung.  Komm mit." Sie lief in Richtung Hinterausgang und ich folgte ihr ohne zu zögern.  Als wir ins Freie traten,  musste ich erst einmal stehen bleiben,  so geblendet war ich von der Sonne.  Und von den kunstvoll bemalten Wänden. Wir standen an einer kleinen Mauer,  die über und über mit Graffittys verziert war. Nicht solche billigen Schriftzüge,  wie man sie so oft an Zugbrücken oder Unterführungen findet,  sondern richtige,  kleine Kunstwerke. Michelle achtete gar nicht darauf und ging einfach weiter.  Doch ich wollte diesen Ort nicht einfach verlassen,  als sei nichts gewesen, erst recht nicht, als mir Isabelles Liste einfiel.  Ich konnte sie inzwischen auswendig und Punkt 4 war gewesen: Spraye ein Graffiti.  Das war doch der perfekte Ort dafür,  oder?  "Michelle?", rief ich,  "Warte mal kurz!" Ich knipste schnell ein paar Fotos und lief dann wieder zu ihr. Ein bisschen außer Atem blieb ich schließlich vor ihr stehen. "Meinst du es ist in Ordnung wenn wir irgendwann nochmal herkommen? Ich meine,  wenn du nicht willst ist das auch nicht schlimm. Aber ich muss hier in New York ein paar Dinge erledigen..."  Und schon wieder eine Person mehr,  der ich von Isabelles Liste erzählte. Meine Tante unterbrach mich nicht ein einziges Mal und hörte die ganze Zeit aufmerksam zu,  während sie mich behutsam weiter schob.  Allmählich vergaß ich auch die ganze Aufregung um das Kellnern und als wir irgendwann vor Annies Lokal stehen blieben,  war ich auf einmal total entspannt und ausgeglichen.  Michelle klopfte mir kurz auf die Schulter.  "Ich muss jetzt auch wieder los. Aber keine Sorge,  ich komme nacher noch vorbei und schau mal,  wie du dich so machst." Lächelnd zwinkerte sie mir zu und drehte sich um. Ich winkte ihr noch schnell und atmete ein letztes Mal tief durch. Dann drückte ich vorsichtig die Tür auf. Mission Kellnern konnte beginnen. 

Next Station: New York City *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt