Kapitel 17

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Am nächsten Morgen wurde ich durch ein leises Klopfen an meiner Zimmertür geweckt. Ich bin nicht  wirklich der Typ Mensch, der sofort aufsteht, wenn er wach wird, sondern bleibe immer solange im Bett liegen wie möglich. An diesem Tag machte ich da auch keine Ausnahme. Verschlafen grummelte ich etwas Unverständliches und drehte mich wieder um. Natürlich nicht, ohne mir vorher die Decke über den Kopf gezogen zu haben. Keine Ahnung, ob meine Tante gehört hatte, was ich da eben von mir gegeben hatte, sie trat trotzdem ein. Wahrscheinlich erschrak sie erst einmal über das Durcheinander, das ich hier schon angerichtet hatte, obwohl ich noch nicht lange hier war. Auf dem Boden lagen überall Klamotten und irgendwann in der Nacht war meine Tasche umgefallen, was bewirkte, dass nun deren kompletter Inhalt auf dem Teppich verstreut war. Michelle bahnte sich zuerst einen Weg durch die ganzen Klamotten und zog mit einem heftigen Ruck das Rollo hoch. Gleißend helles Sonnenlicht durchflutete den Raum und drang hinter meine geschlossenen Augenlider. Jetzt half auch die Decke nicht mehr. "Muss das sein?", beschwerte ich mich. "Es ist bestimmt noch total früh." Zu der Tatsache, dass ich absolut kein Frühaufsteher bin, muss man unbedingt hinzufügen, dass ich morgens auch nur selten wirklich gut gelaunt bin. An dem Tag war das leider auch nicht der Fall. Stöhnend vergrub ich meinen Kopf unter dem Kissen und versuchte, wieder einzuschlafen. Vergeblich. Michelle klopfte mir sanft auf den Oberarm und strich mir die zerzausten Haare aus dem Gesicht. "Sarah, wir haben schon kurz vor neun", sagte sie und klang dabei nicht im geringsten gereizt. Sie erhob sich von der Bettkante und bückte sich. Als sie wieder aufstand, hatte ich meine Augen bereits geöffnet und bemerkte, dass es sich bei dem Blatt, das sie in den Händen hielt, um die Liste handelte. "Das ist also die Liste, von der du mir erzählt hast?", fragte meine Tante und strich vorsichtig das schon leicht zerknitterte Papier glatt. "Hmm", machte ich und ordnete meine Decke. "Du hast ja schon echt viele Punkte erledigt", stellte Michelle fest und sah mich freundlich an. Hinter jede gemachte Aufgabe hatte ich ein Häkchen gemacht und jetzt waren es nur noch drei Punkte, bei denen noch keins war:

5. Fahre mit einem Jetski den East River entlang

6. Erkunde die Stadt einen Tag lang ohne Karte

10. Finde die Sterne

Eine Weile lang betrachtete Michelle prüfend das Blatt Papier und sagte nichts. Schließlich räusperte sie sich und drückte mir die Liste in die Hand. "Hat dir das Sprayen gestern gefallen?" Ich nickte und einige Haarsträhnen fielen dabei in mein Gesicht. "Ja, es war richtig schön", antwortete ich und das war nicht einmal gelogen. In dem Gesicht meiner Tante breitete sich ein Lächeln aus. "Das freut mich. Ich hoffe, es macht nichts, dass du jetzt nicht bei der U-Bahn- Haltestelle warst, aber ich dachte mir, der Tischtennisplatz könnte ein wenig Farbe gebrauchen."  "Da hast du Recht. Das war echt der perfekte Ort dafür und Johnny hat das ja auch echt gut hinbekommen." Mittlerweile hatte ich mich aufgesetzt und schaute den Klamottenhaufen nach etwas brauchbares zum Anziehen durch. Michelle öffnete das Fenster und erstaunlich warme Luft wehte herein. "Also bei dem Punkt mit dem Jetski könnte ich glaube ich  etwas machen", meinte sie und zwinkerte mir zu. "Wie meinst du das?", fragte ich etwas verwirrt. "Der Ehemann einer Arbeitskollegin  hat einen Jetskiverleih und ich denke, ich könnte da ja mal anrufen", sagte sie und sah aus dem Fenster. "Das Wetter ist ja gut genug dafür." Da hatte sie allerdings Recht. Nicht eine einzige Wolke war am Himmel zu sehen und schon jetzt wurde es allmählich warm. "Dafür müsstest du aber aufstehen", fügte sie hinzu und ging in Richtung Tür. "Gut, du hast gewonnen", lachte ich und schwang meine Beine über die Bettkante. "Ich stehe ja schon auf." Michelle nickte zufrieden. "In zwanzig Minuten gibt's Frühstück", war das letzte, was sie sagte, bevor sie wieder die Treppe herunter ging. Gähnend erhob ich mich und begann, die Klamotten nach etwas brauchbarem zu durchwühlen. Mit einer kurzen, schwarzen Jeans und einem dunkelblauen Tanktop in der Hand machte ich mich auf den Weg ins Bad.

Exakt zwanzig Minuten später betrat ich mit frisch gewaschenen Haaren Michelles kleine Küche. Auf dem Tisch stand alles, was man für ein perfektes Frühstück braucht: Cornflakes, frische Brötchen, verschiedene Marmeladen und Gelees, Nutella, Ei, Tee, Orangensaft - und Pancaces. Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen. Meine Tante bedeutete mir mit einer kleinen Geste, mich zu setzen. Reden konnte sie nicht; sie telefonierte gerade. Wahrscheinlich mit dem Jetskiverleih. Ich nahm mir einen Pancace und lud ihn auf meinen Teller, während ich das Telefonat mitverfolgte. "Okay, gut. Dann bis nachher. Ich freue mich", sagte Michelle und legte auf. "Das war der Jetskiverleih", erklärte sie mir. "In zwei Stunden können wir kommen." "Cool", sagte ich. "Danke." Ich griff nach dem Nutellaglas und wollte es gerade öffnen, als meine Tante es mir behutsam aus der Hand nahm. "Hey", protestierte ich und sah sie empört an. "Keine Sorge, du kannst natürlich noch Pancaces mit Nutella essen, soviel du willst. Aber zuerst probierst du einen nach Tradition", meinte sie nur und öffnete den Kühlschrank. Sie holte ein Glas heraus und hielt es mir unter die Nase. "Ahornsirup", las ich und roch vorsichtig daran. Ich konnte mir ehrlich gesagt nicht so richtig vorstellen, dass das gut schmecken könnte, aber ich wollte Michelle den Gefallen nicht ausschlagen. Außerdem war ich doch in Amerika, oder nicht? Es wurde ohnehin Zeit, mal einige amerikanische Gewohnheiten kennenzulernen. Entschlossen griff ich nach meinem Löffel und tauchte ihn in ein. Der Sirup war zähflüssig und sehr, sehr klebrig. Mit einer schnellen Bewegungen verteilte ich ihn auf dem Pancace und nahm zögernd den ersten Bissen. Es war zwar ziemlich süß, aber trotzdem erstaunlich besser als ich vermute hatte. Gerade als ich mir erneut ein Stück abschneiden wollte, klingelte mein Handy. "Tschuldigung", murmelte ich und zog es aus meiner Hosentasche. Der Name, der auf dem Display stand, ließ mein Herz doppelt so schnell schlagen wie davor. Sam. "Ja?", meldete ich mich und strich mir dabei die noch feuchten Haare aus der Stirn. "Hey, Sarah", sagte er leise. "Ich wollte dich fragen, ob du heute schon was vorhast." Es kostete mich meine ganze Selbstbeherrschung, um nicht aufzuspringen und durchs ganze Zimmer zu rennen. "Also.. ähm, ich wollte heute Jetski fahren. Du weißt doch, der eine Punkt auf der Liste...", antwortete ich stattdessen und schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Warum konnte ich nicht so selbstbewusst sein wie Isabelle? Warum konnte ich nicht zwei vernünftige Sätze rausbringen, wenn Sam anrief? Was sollte er denn jetzt von mir denken? Zum Glück musste ich darüber nicht mehr lange nachdenken, denn er ließ sich auch durch mein peinliches Gestammel nicht aus der Ruhe bringen. "Was dagegen, wenn ich mitkomme?", fragte er und ich blickte fragend zu Michelle. Die schüttelte nur lächelnd den Kopf. "Er kann gerne kommen", flüsterte sie und in ihrer Stimme lag etwas Zuversicht. "Nein", antwortete ich. "Ich habe nichts dagegen." Für ein paar Sekunden herrschte völlige Stille. "Ganz im Gegenteil", fügte ich leise hinzu und strich mir erneut die Haare nach hinten. "Okay", meinte Sam nur, als ich ihm die Adresse durchgegeben hatte. "In zwei Stunden?"  "In zwei Stunden", bestätigte ich. "Dann... also bis später?" "Genau", meinte Sam. "Wir sehen uns nachher."

Next Station: New York City *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt