Kapitel 15

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"So, da wären wir", sagte Johnny und rüttelte mich sanft an der Schulter.  Er hatte angeboten,  mich mit meinen Sachen zu Michelle zu bringen und obwohl ich ihm mehrmals versichert hatte, dass es kein Problem wäre, die U-Bahn zu nehmen , hatte er darauf bestanden, Taxi zu fahren. Ich muss gestehen, in meinem ganzen Leben habe ich noch nie ein Taxi von innen gesehen, erst recht kein amerikanisches.  Aber ich glaube, wenn die in Deutschland genauso sind wie hier, muss ich das wohl öfter machen.  Die Sitze waren unglaublich bequem und aus schwarzem, weichem Leder. In dem Moment,  in dem die Tür zufiel, fielen auch meine Augen zu. Das Taxi schien mir in diesem Augenblick der perfekte Ort zu sein, um meinen fehlenden Schlaf nachzuholen und mich von der ganzen Aufregung der letzten Tage zu erholen. Ich hatte absolut keine Ahnung,  wie viel Zeit vergangen war, als Johnny mich wachrüttelte. Gähnend öffnete ich meine Augen und sah mich um. Wir befanden vor einem kleinen,  dreistöckigen Backsteinhäuschen in dessen Vorgarten ein Apfelbaum stand. An seinen Ästen baumelte eine geräumige Hollywoodschaukel, genau so eine, wie die, die Sam mir im Central Park gezeigt hatte. Der Anblick von diesem Haus ließ mich komplett vergessen,  dass ich in New York war. Selbst der Geruch nach Abgasen war verschwunden und zum ersten Mal, seitdem ich hier war, spürte ich, wie ein frischer Windstoß meine Haare zerzauste. Plötzlich öffnete sich die grün lackierte Holztür und Michelle trat heraus.  Im Gegensatz zu unserer letzten Begegnung trug sie ihre Haare offen,  was sie viel jünger erscheinen ließ. Um ihre Augen bildeten sich kleine Lachfalten, als sie mich sah und sofort lief sie auf mich zu und schloss mich in ihre Arme. Sie roch nach frisch gebackenem Apfelkuchen, genau nach dem, den meine Oma immer machte.  Einen kurzen Moment überkam mich eine Welle von Heimweh,  aber als Johnny meine Sachen aus  dem Kofferraum wuchtete und sich vom Taxifahrer verabschiedete, löste sich die Anspannung wieder.  Michelle trat einen Schritt zurück und legte mir ihre Hände auf die Schultern. "Kommt doch rein", bat sie. "Ich habe Kuchen gebacken." Langsam stieg ich die Treppe hoch und betrat das Haus. Der Flur war klein, aber gemütlich. Eine schmale Holztreppe führte uns in den ersten Stock und in das Dachgeschoss. "Das ist dein Zimmer", erklärte Michelle lächelnd und machte eine einladende Geste. Die Dielen waren aus hellem Holz und auch wenn der Raum auf den ersten Blick eher klein erschien, war er doch ganz geräumig. Eigentlich war an der gesamten Ausstattung nichts ungewöhnliches zu erkennen; alles war schlicht und neutral gehalten und es gab keinerlei Auffälligkeiten. Trotzdem war dieses Zimmer ein Traum. Vielleicht lag es an den Dachschrägen aus Holz, vielleicht aber auch an der Sonne,  die einen schwachen Lichstrahl auf das Bett warf. Ich weiß nicht, woran es tatsächlich lag, aber irgendwie gefiel es mir hier. Und als ich gemeinsam mit Johnny und Michelle in der Küche saß und Apfelkuchen aß,  hatte ich das Gefühl,  endlich richtig angekommen zu sein.

Nach zwei Stunden erhob sich Johnny schließlich doch von seinem Stuhl und reichte meiner Tante die Hand. "Vielen Dank für den Kuchen." Sie lächelte.  "Gern geschehen." Johnny erwiderte das Lächeln und schulterte seinen Rucksack, der ziemlich prall gefüllt war. "Was hast du da eigentlich alles drin?", fragte ich neugierig. "Das wirst du gleich sehen", entgegnete er und grinste. Nachdenklich schweifte mein Blick erst zu Johnny, dann zu seinem Rucksack und schließlich zu Michelle,  die zustimmend nickte. Ehe ich protestieren konnte,  schob Johnny mich zur Tür heraus und zwinkerte meiner Tante zu. Irgendetwas führten die beiden im Schilde - nur was?

Next Station: New York City *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt