Kapitel 24

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Eine halbe Stunde später stand ich in Michelles Gästezimmer unter dem Dach und durchwühlte verzweifelt meinen Koffer. 'Etwas schönes' sollte ich anziehen. Noch ungenauer ging es ja nicht. Ich hatte schon alle möglichen Variationen anprobiert, mit dem Ergebnis, dass ich keine Ahnung hatte, was mich heute Abend erwarten würde und dementsprechend auch überhaupt nicht wissen konnte, zu welchem Anlass ich mich kleiden sollte. Das einzige, was ich noch zustande gebracht hatte, war ein im Chaos versinkendes Zimmer. Und damit hörte es auch schon auf. Erschöpft setzte ich mich auf mein Bett und lehnte mich an die Wand. Auf einmal musste ich an meine erste Verabredung mit Sam denken und daran, welches Durcheinander Millie damals wegen meinem Outfit angerichtet hatte. Ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, zogen sich meine Mundwinkel nach oben und ein wehmütiges Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Von einer plötzlichen Entschlossenheit gepackt zog ich mein Handy aus der Hosentasche und suchte in meinen Kontakten nach der Festnetznummer der WG. Es tutete ein paar Mal, dann knackte es in der Leitung und Sophie war am Apparat. "Hallo?", meldete sie sich. "Hi, hier ist Sarah", sagte ich. "Könnt ihr mir vielleicht weiterhelfen? Ich hab ein kleines Problem, ich weiß nämlich nicht, was ich anzieh.." Weiter kam ich nicht, denn Sophie legte den Hörer ab und rief nach Millie. So laut, dass ich mein Handy reflexartig auf Abstand hielt. Danach war die Verbindung still, das Gespräch lief aber noch. Ich nahm das Handy von meinem Ohr und starrte auf das Display. Erst eine Minute, dann zwei und schließlich fünf. Was dauerte das nur so lange? Plötzlich wurde das Telefon am anderen Ende Leitung wieder aufgehoben, diesmal war es allerdings Millie, die sich zu Wort meldete. "Sarah?", fragte sie etwas atemlos. "Wir kommen sofort. Mach dir keine Sorgen, wir finden schon das Richtige für dich." Die Antwort lag mir schon auf der Zunge, doch gerade, als ich den Mund öffnete, tutete es. Millie hatte aufgelegt. Verwirrt beendete ich den Anruf ebenfalls und starrte einige Sekunden perplex auf mein Handy. Dann suchte ich auf meinem iPod ein passendes Lied raus (Hey Brother von Avicii), drehte die Lautstärke aufs Maximum und begann, die Klamotten zu sortieren.

Hey Brother, there's an endless road to rediscover,

dröhnte aus dem Lautsprecher und ich wuchtete alle meine Kleidungsstücke aufs Bett. Eines nach dem anderen faltete ich sorgfältig und legte sie auf einem Stapel zusammen. Dabei hatte ich leise angefangen, mitzusingen und mir fiel das erste Mal seit Langem auf, wie wunderschön dieses Lied doch eigentlich war. Ich hatte es mir schon eine ganze Weile nicht mehr angehört, und jetzt traf es mich mit voller Wucht.

What if I'm far from home?

Oh Brother, I will hear your call.

Unwillkürlich schossen mir Tränen in die Augen. Mir wurde klar, wie weit ich eigentlich von Zuhause weg war. Nicht nur wegen der Distanz. Wann hatte ich mich so von meiner Familie entfernt und angefangen mein eigenes Leben zu leben? Wann war ich so erwachsen geworden? Auf einmal kam mir mein Leben in Deutschland vor, als läge es Jahre zurück. Wenn ich wieder dort wäre, würde ich nicht mehr dieselbe sein, wie am Tag meiner Abreise, das wusste ich. Ich hatte hier wundervolle Menschen kennengelernt, so viel erlebt, aber vor allem hatte ich gelernt, auf mich selbst aufzupassen. Vielleicht war ich auch ein wenig selbstbewusster geworden. Isabelle wäre sicherlich stolz auf mich gewesen. Beim Gedanken an meine beste Freundin zog sich meine Brust zusammen. Wann hatten wir das letzte Mal telefoniert? Natürlich hatten wir über Whatsapp viel Kontakt, aber das war nicht das Gleiche. Ohne zu zögern tippte ich ihre Nummer ins Tastenfeld. Ich konnte sie auswendig. Gleich nach dem zweiten Freizeichen ging sie ran. "Hi?" Jetzt verschwamm meine Sicht komplett und die Tränen, die sich in mir aufgestaut hatten liefen mir übers Gesicht. "Sarah?", fragte sie, als ich keinen Ton von mir gab. "Ich vermisse dich", gestand ich leise. Isabelle schwieg einen Moment, ehe sie sagte: "Ich dich auch." Obwohl ich sie nicht sehen konnte, obwohl sie am anderen Ende der Welt war, spürte ich, wie auch Isabelle Tränen in die Augen traten. Als sie ein paar Sekunden später leise schniefte, bestätigte sich mein Verdacht. "Weinst du?", fragte ich und machte dabei ein seltsames Geräusch. Es hörte sich an wie ein Schluchzen, gleichzeitig aber wie ein missglücktes Lachen. Wahrscheinlich war es irgendetwas dazwischen. "Ein bisschen", antwortete Isabelle und zog sich geräuschvoll die Nase hoch. "Du auch, oder?" Gegen meinen Willen musste ich auflachen. "Ein bisschen", antwortete ich grinsend und fuhr mit meinem Handrücken unter meinen Augen entlang.

Next Station: New York City *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt