Prolog

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Zögernd öffnete ich meine Augen. Eigentlich hätte ich sie am liebsten zugelassen, da ich den neuen Tag nicht erblicken wollte. Tag 256? 290? Ich hatte den Überblick verloren. Es musste vielleicht ein Jahr her sein, seit ich meine Freunde das letzte Mal gesehen hatte. Derek hatte mir versichert, sie konnten fliehen, aber WICKED versuchte sie auf jeden Fall zu finden. Nur 2 Monate nach der Flucht hatte ich das Glück meine ersten Schritte zu machen. Die Lähmung konnte Dr. Shepherd beheben. Das machte mich natürlich sehr glücklich, immerhin hatte ich so die Möglichkeit, meine Freunde wiederzufinden. Aber was danach kam, war am schlimmsten. Sie sperrten mich in eine Zelle. Ein weißer Raum, mit weißen Wänden, Möbeln. Es war nicht so komfortabel wie das Bett im Krankenhausflügel, denn ich musste auf einer Matratze am Boden schlafen und die Toilette war so winzig, dass man sich nicht mehr als 3 Minuten darin aufhalten konnte. Sie holten mich jeden Tag raus, um verschiedene Tests an mir durchzuführen.
Ich durchlitt verschiedene Szenarien, die schlimmer waren als der Tod. Stromschläge, Ertrinken, tagelanges Stehen, manchmal steckten sie mich in einen Raum, in dem sich Feuer ausbreitete und holten mich erst raus, wenn ich fast am Rauch erstickt war. Es war die reinste Folter. Anfangs waren es vielleicht nur Tests, doch wahrscheinlich hatten sie gefallen daran gefunden, mir wehzutun. Tests hatten sich zu purem Sadismus entwickelt. Über so lange Zeit litt ich und keiner konnte mir helfen. Suchten meine Freunde nach mir? Wollten sie mich holen? Waren sie überhaupt noch am Leben? Fragen, die ich mir jeden Tag stellte. Fragen, auf die ich keinerlei Antworten hatte. Auch Dr. Shepherd hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Ab und zu musste er überprüfen, ob ich noch ganz dicht war. Inzwischen war ich mir selbst nicht mehr so sicher. Bei klarem Verstand zu bleiben, wäre bei diesen Foltermethoden unmöglich gewesen. Anfangs hatte ich noch in den Spiegel in meinem winzigen Badezimmer gesehen. Mit der Zeit war meine Haut immer gräulicher geworden, die Ringe unter meinen Augen waren dick geschwollen. Inzwischen sah ich nicht mehr nach. Denn das war nicht ich. Die Person im Spiegel war ein Schwächling, der so tat, als wäre er tapfer. Als ich im Labyrinth gewesen war, hatte ich mich immer mutig gefühlt. Ich hatte mich den Gefahren im Labyrinth gestellt und meine Freunde verteidigt. War das nun der Preis?
Meine Freunde würden nicht zurückkommen, ich war mir sicher. Wenn sie wiederkehren würden, wären sie schon längst da. Ich war allein. Niemals hatte ich gewusst wie sich das anfühlt. Einsamkeit. Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte Shay niemals gehen lassen. Natürlich wusste ich, dass es das beste für sie gewesen war. Doch wenn sie geblieben wäre, dann wäre vielleicht alles anders. Als die Folter anfing, wartete ich. Tag für Tag. Monatelang. Jeden Tag ersehnte ich mir nichts mehr als sie. Jeden Tag erwartete ich, dass sie plötzlich bei WICKED auftauchen würde, um mich zu befreien. Nach ein paar Monaten hörte ich dann auf zu warten. Die Folter wurde immer unerträglicher, weil ich mich nicht mehr auf ein Wiedersehen mit meinen Freunden freuen konnte. Es war alles nur noch so leer, als wäre die Welt schwarz-weiß. Dieselbe Routine, dieselben Schmerzen. Nun konnte ich Newt endlich verstehen und warum er damals im Labyrinth von den Wänden gesprungen war. Hätte es bei WICKED hohe Wände gegeben, wäre der Feigling, zu dem ich geworden war schon längst gesprungen. Das einzige, was mich am Leben hielt, war der Gedanke an sie. Shay. Für sie lohnte es sich durchzuhalten. Für sie musste ich es durchhalten. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte. Manchmal wurde ich panisch, weil ich einzelne Teile ihres Aussehens vergaß. Es war, als würde sie mit jedem Tag ein wenig mehr verschwinden. Durch die psychische Belastung bei WICKED hatte ich viele Details vergessen. War es das Aussehen meiner Freunde oder das Labyrinth. Ich fragte mich, ob es an der Belastung lag oder ob sie dafür sorgten, dass ich langsam vergaß. Mit jedem Tag rückten Shays und meine Welt ein winziges Stück auseinander. Meine einzige Hoffnung war, dass sie lebte und dass es ihr gut ging. Ich hätte alles dafür gegeben, sie nur einmal zu sehen. Sie kurz zu berühren. Mit ihr zu sprechen. Aber ich wusste nicht, ob sie überhaupt noch lebte, geschweige denn ob ich sie jemals wiedersehen würde. Dachte sie auch manchmal an mich? Wie war es ihr gegangen, nachdem sie geflohen waren? Wollte sie vielleicht zurückfliegen, hatte sie geweint? Vermisste sie mich?

Ein Piepsen riss mich aus meinem Schlaf. Es war das vertraute Geräusch der Tür, die sich jeden Tag öffnete. Ein Mann stellte ein Tablett mit Frühstück auf dem Boden ab und schloss die Tür. An diesem Tag war irgendetwas anders als sonst. Mein Hunger war mir vergangen, die Luft fühlte sich dicker und schwerer an als sonst. Mein Kopf brummte und schmerzte unangenehm. Nach einer halben Stunde, in der ich mein Frühstück nicht anrührte, öffnete sich die Tür erneut. Doch es stand nicht wie üblich Don vor der Tür, der muskulöse Sicherheitsmann, dessen Gesichtszüge verrieten, dass er schon seit Jahren nicht mehr gelacht hatte, sondern eine blonde Frau.
"Ava Paige", flüsterte ich.
"Hallo, Minho", begrüßte sie mich und trat in meine Zelle ein. "Wie geht es dir?"
"Das soll wohl ein Scherz sein", gab ich trocken zurück.
Sie warf mir einen fragenden Blick zu, als könne sie sich keinen Grund für meine Wut ausmachen. Dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf und sprach weiter. "Würdest du mich bitte begleiten?"
"Habe ich denn eine Wahl?"
"Ja", sagte sie. "Du kannst mir entweder freiwillig folgen oder Don wird das erledigen."
"Na dann, wir wollen Don ja nicht überarbeiten", sagte ich genervt und stand auf. Don trat hinter Dr. Paige in den Türrahmen und starrte mich stumm an. Er legte mir Handschellen an, die mir täglich das Fleisch zerschnitten.
Mit langsamen, trägen Schritten trottete ich hinter Dr. Paige her, denn schneller konnten meine Beine mich nicht tragen. Trotzdem zwang ich mich mit ihr Schritt zu halten, da sich Dons Blick bereits in meinen Hinterkopf brannte.
"Was verschafft mir die Ehre?", hakte ich nach. Sie schwieg und ging geradeaus weiter. Noch einmal nach rechts und wir waren vor einer Tür mit kleinem Fenster angekommen.
"Das wirst du noch früh genug erfahren", sagte sie und drehte sich mit einem Grinsen zu mir um. Verwirrt blickte ich sie an, als Don die Tür aufschloss und öffnete.

Das war das letzte Mal, das ich an sie dachte.

Lost [Maze Runner - Minho - Run Band 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt