9 - Shay

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"Es stinkt", beschwerte ich mich, als wir durch einen Tunnel wateten. Zum Glück waren meine Stiefel hoch genug, sodass meine Kleidung nicht in Kontakt mit dem Schmutzwasser kam. Ich sah zu Gally, der kurz den Mund öffnete, um einen Kommentar abzulassen, doch er tat es nicht. Was ich zu ihm gesagt hatte, musste ihn wachgerüttelt haben. Auch ich fühlte mich leichter, jetzt da ich ihm alles gesagt hatte, was ich ihm damals hatte sagen wollen.
"Wie lange noch?", fragte Newt, der angewidert das Gesicht verzog.
"Noch etwa 5 Minuten in diesem Tunnel und dann noch etwa 15 Minuten in einem U-Bahn-Tunnel."
"Ist der U-Bahn-Tunnel aktiv?", fragte ich nach.
"Ja, wir müssen also schnell sein", erwiderte Gally.
Thomas holte mich ein und ließ Brenda mit Pfanne zurück.
"Hey", sagte er.
"Hi", erwiderte ich.
"Was hast du mit Gally gestern gesprochen? Er ist heute viel ruhiger als sonst", stellte Thomas fest.
"Es gibt da eine kleine Sache in unserer Vergangenheit, die ich gestern ansprechen musste", erklärte ich.
"Was für eine Sache?", fragte er neugierig.
"Eigentlich will ich darüber nicht reden", gab ich zurück.
"Komm schon, du kannst es mir erzählen", versprach Thomas. "Ich sag's niemandem."
"Na schön", erwiderte ich. "Nur Newt, Teresa und Minho wissen davon... Er wollte mich vergewaltigen."
"Was?!", sagte Thomas geschockt und blickte zu Gally, der so weit vor uns lief, dass er unsere Konversation nicht hören konnte.
"Nicht so laut!", erwiderte ich, als ich über eine Erhöhung im Boden stolperte und nach vorne fiel.
"Hey, vorsichtig", sagte Thomas lachend und hielt mich fest, bis ich wieder sicher stand. "Alles okay?"
Ich nickte lachend. "Ja, ich schätze, ich bin nur etwas nervös."
"Du hast Minho ewig nicht mehr gesehen... Da wäre es komisch wenn du nicht ein wenig nervös wärst."
"Ich hoffe, wir können da weitermachen, wo wir aufgehört haben", sagte ich.
"Was meinst du? Warum solltet ihr das nicht können?", hakte Thomas nach.
"Er war jetzt fast ein Jahr bei WICKED und wer weiß, was die dort mit ihm machen. Vielleicht ist er nicht mehr derselbe", murmelte ich. "Ich meine, denkst du Teresa ist noch wie sie im Labyrinth war?"
Thomas schüttelte den Kopf. "Ich will ihr nicht gegenübertreten. Ich weiß nicht, was ich für sie empfinde. Ein Teil von mir will sie hassen für das, was sie getan hat... aber andererseits will ich ihr vergeben. Das fühlt sich dann an als würde ich euch alle betrügen, verstehst du?"
"Ja", erwiderte ich. "Tu einfach, was dein Herz dir sagt."
"Wärst du bereit, Teresa zu vergeben?", hakte er nach.
"Ich denke schon. Wenn ich ihre Gründe kennen würde, dann könnte ich es vielleicht verstehen. Dann wäre ich vielleicht bereit, ihr zu vergeben", erklärte ich.
"Na schön", rief Gally, worauf wir alle stehen blieben. Von hier aus geht es in den U-Bahn-Tunnel. In fünf Minuten kommt der nächste Zug und dann heißt es rennen. Unser Zeitfenster ist eng."
"Könnt ihr glauben, dass wir heute Minho befreien werden?", fragte ich.
Newt schüttelte den Kopf. "Dieses letzte Jahr war langweilig ohne ihn."
"Das stimmt", sagte Thomas.
"Er war zwar wirklich nervig, aber irgendwann vermisst man seine Sprüche", fügte Brenda hinzu, worauf wir alle lachten.
"Hebt euch euren Atem auf", sagte Gally und blickte hinunter in den U-Bahn-Tunnel, den man über eine rostige Leiter erreichen konnte.
Minutenlang saßen wir nur dort und versuchten uns mental darauf vorzubereiten, was vor uns lag. Teresa und Minho. Endlich würden wir sie wiedersehen. In erster Linie freute ich mich auf Minho. Ich freute mich auf seine Reaktion, wenn er uns endlich wiedersehen konnte.
Der kleine Tunnel, in dem wir gequetscht standen, fing an zu rütteln. Gally richtete sich auf, sein Körper plötzlich angespannt. "Gleich kommt der Zug, dann rennen wir."
Wir alle nickten schweigend. Thomas sah mich mit einem winzigen Lächeln an. Er fühlte im Moment dasselbe wie ich. In vielleicht weniger als einer halben Stunde würde er Teresa gegenüberstehen und ich Minho. Es fühlte sich surreal an, als wäre das alles ein Traum, den ich das letzte Jahr ständig geträumt hatte und ich erwartete nur, dass ich aufwachte.
Mit einem kalten, drückenden Windzug fuhr der Zug an uns vorbei. So schnell, dass ich nicht erkennen konnte, ob überhaupt jemand darin saß.
Gerade als der letzte Wagon an uns vorbeigerast war, kletterte Gally schnell wie der Blitz die braune, rostige Leiter hinunter und wir alle taten es ihm nach.
Ich rannte so schnell ich konnte hinter Thomas, Newt, Gally, Brenda und Pfanne her, denn es würde nicht lange dauern, bis der nächste Zug kam.
"Los, los, los!", rief Gally und führte unsere Gruppe an. Ich atmete hektisch, meine Beine drohten zu versagen, doch das Adrenalin in meinem Körper trieb mich dazu an weiterhin zu rennen. Ich holte Pfanne ein und Brenda, sodass ich neben Newt und Thomas rannte.
"Wie weit noch?", rief Newt Gally zu.
"Noch ein Stückchen! Na los!"
Ich zuckte zusammen, als ich das Rattern eines Zuges in der Ferne hörte. Ich biss die Zähne zusammen und rannte ein wenig schneller, obwohl meine Beine am liebsten versagen wollten.
"Los, Shay", rief Thomas. "Brenda, komm schon."
Meine Lungen fühlten sich an als würden sie platzen und mir wurde schlecht, doch ich musste weitermachen. Alles war besser als von einem Zug überrollt zu werden. Ich sah mich nach hinten um. Hinter mir war nur noch Newt, der langsamer wurde.
"Alles in Ordnung?", fragte ich, obwohl ich wusste, dass sein Bein ihm Schwierigkeiten bereitete.
"Ja, renn einfach weiter", rief er mir zu, total außer Atem.
In der Ferne wurde der Tunnel breiter und wir waren schon fast da, doch der Zug kam immer näher.
"Planänderung!", rief Gally und rannte zur Wand des Tunnels. "Wir schaffen es nicht, drückt euch an die Wand!"
Wir taten, was er sagte und standen so eng es ging an der schmutzigen Wand des U-Bahn Tunnels. Ich blickte zu Thomas, der rechts neben mir stand und dann nach links. Doch statt Newt neben mir zu sehen, war alles leer.
"Newt!", rief ich und blickte zu den Gleisen, auf denen unser Freund humpelte. Gerade als ich losstürmen wollte, hielt Thomas mich am Handgelenk zurück.
"Ich hole ihn!", rief Gally und rannte los, als ich mich wieder an die Wand presste. Ohne es zu merken, strömten Tränen meine Wangen hinunter. Gally stürzte sich auf Newt und dann verdeckte der Zug meine Sicht.
Meine Ohren pfiffen, als die Bahn an uns vorbeiraste und quietschend über die Schienen ratterte.
Newt war tot. Gally auch. Ich war mir sicher. Tränen strömten meine Wangen hinunter und ich hätte am liebsten geschrien, doch meine Kehle war ausgetrocknet.
Sobald der Zug vorbei war, blickte ich verzweifelt auf die Gleise. Doch statt zerissenen, toten Körpern sah ich beide auf den Gleisen liegen.
"Newt!", rief ich und rannte auf ihn zu, während er aufstand. Sofort umarmte ich ihn fest, während die Tränen noch flossen. "Ich dachte du wärst tot. Ich kann dich nicht auch noch verlieren, Newt."
"Ich weiß, ich weiß", flüsterte er und strich mir über den Rücken. "Mir geht's gut."
"Jag mir nie wieder so eine Angst ein, hörst du?"
"Wir müssen weiter", kündigte Gally an, nachdem er sich geräuspert hatte.
Ich ließ Newt los, wischte mir die Tränen weg und lief weiter. "Holen wir Minho."

"Siehst du sie?", fragte Brenda, worauf ich nickte.
"Sie kommen!", erwiderte ich. Thomas hatte in der Stadt auf Teresa gewartet. Es war klar, dass sie ihm folgen würde. Wir lauerten inzwischen in einer stillstehenden Bahnstation und wollten sie dann überraschen.
Mit jeder Sekunde wurde ich nervöser, denn schon bald könnten wir Minho retten. Vielleicht könnten wir dann einen Ort jenseits der Brandwüste finden, der für uns bestimmt war. Ein Paradies.
"Waren die zwei eigentlich ein Paar?", hakte Brenda nach.
"Nein, aber sie haben immer heftig geflirtet", antwortete Gally für mich. "Und jetzt seid still! Sie kommen."
Thomas lief den Gang entlang und hatte Teresa den Rücken zugekehrt.
"Thomas!", rief sie, worauf er ruckartig stehenblieb. "Thomas."
Er drehte sich um und nahm die Kapuze ab. "Teresa."
"Wie bist du hergekommen?", fragte sie ihn verwirrt, worauf er trocken mit den Schultern zuckte.
"Spielt das eine Rolle?", erwiderte er.
"Nein", gab Teresa zurück. "Es ist nur... Ich habe dich unglaublich vermisst, Tom."
"Ich dich auch, Teresa."
Ein Lächeln bildete sich auf ihren Lippen. Vermutlich hatte sie diese Worte von ihm nicht erwartet.
"Aber eine Sache interessiert mich noch", fragte Thomas. Das war das Stichwort. "Bereust du es... was du uns angetan hast?"

Lost [Maze Runner - Minho - Run Band 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt