8 - Shay

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"Was ist der Plan?", fragte Brenda und lehnte sich auf den runden Tisch, um den wir erneut versammelt waren.
"Wir wollen alle retten, nicht nur Minho", sagte Gally. "Hier ist der Plan. Thomas wird unser Köder. Teresa wird ihm folgen und eure Chips entfernen."
"Warum sollte sie das tun?", fragte Thomas.
"Wir werden sie nicht darum bitten", sagte ich. "Sie muss es tun. Das schuldet sie uns."
Angespannt stützte Thomas seine Arme auf dem Tisch ab und blickte besorgt auf Gallys Bauplan des WICKED-Komplexes. "Und weiter?"
"Sobald die Chips entfernt sind, beginnt der wahre Plan. Newt, Thomas und ich werden durch Teresa eingeschleust. Pfanne und Brenda, ihr seid für die Rettung der Immunen zuständig, ihr bekommt noch genauere Infos. Wir suchen dann Minho und holen die Immunen und das Heilmittel. Wir schicken die Kids dann zu Brenda, die sie mit einem Bus aus der Stadt fahren wird."
"Was ist mit mir?", fragte ich nach, worauf Gally seufzte.
"Du liebst Minho, das heißt du könntest Dinge tun, die irgendwie impulsiv sind. Wir können das nicht gebrauchen", erklärte er, worauf ich spöttisch lachte.
"Willst du mich verarschen?", gab ich empört zurück. "Ist das dein Ernst? Du willst, dass ich hier bleibe?"
"Shay, wir müssen uns an den Plan halten-"
"Du kannst mich nicht zwingen hierzubleiben!", protestierte ich.
"Das kann ich sehr wohl!"
"Nein!", erwiderte ich und blickte alle anderen ungläubig an. "Wollt ihr denn nichts sagen?"
"Es gibt einen Plan", sagte Brenda. "Wenn wir uns also nicht auf dich verlassen können, wäre es besser, du würdest nicht mitkommen."
Ich schnaubte verächtlich. "Ihr denkt also ihr könnt mir nicht vertrauen? Ist das euer Problem?"
"Raus hier", befahl Gally.
"Du-"
"Verschwinde, verdammt nochmal!", unterbrach er mich. Ich blickte nochmals alle Anwesenden an, doch alle mieden den Augenkontakt mit mir und keine machte Anstalten, nur ein Wort zu sagen.
"Na, vielen Dank", sagte ich, bevor ich aus dem Raum stürmte. Ich atmete tief ein, als ich in der kalten Luft der Stadt stand. Naja, wohl eher vor der Stadt. Ich setzte mich wieder an den Rand des Dachs und ließ meine Beine baumeln. Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit Newt. Wenn sie wüssten, dass er den Brand hatte, würden sie ihn dann auch hierlassen?
Für mich stand eines fest, nämlich die Tatsache, dass ich auf keinen Fall zurückbleiben würde. Ich wollte Minho retten, auch wenn es das letzte war, was ich tat. Nachdem wir ohne ihn gegangen waren, hatte mich ein Gefühl von Schuld niemals verlassen. Vielleicht hätte ich bleiben sollen. Derek hatte zwar gesagt, WICKEDs neue Methoden waren die Hölle auf Erden, doch dann wäre ich wenigstens bei Minho gewesen. Vielleicht wendeten sie ihre Methoden jetzt an ihm an und ich hatte es kampflos zugelassen. Wenn ich mir vorstellte, wie er sich fühlen musste, wurde mir fast schlecht. Er musste wohl denken, wir hatten ihn endgültig zurückgelassen. Was musste das mit seiner Psyche anstellen? Manchmal fragte ich mich, ob die Dinge zwischen uns noch gleich sein würden, wenn wir uns wiedersahen. Würden wir uns immer noch lieben oder hatte unsere Flucht eine Kluft zwischen uns getrieben?
Seit fast einem Jahr musste ich mir jeden Tag dieselben Fragen stellen. Dachte er an mich? War er überhaupt noch am leben? Was stellte WICKED mit ihm an? Frustriert vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen und ließ die Tränen fließen.
"Hey", hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, stand Thomas dort. "Weinst du?"
"Meine Augen schwitzen", erwiderte ich sarkastisch, bevor ich schluchzte. Mein Herz schmerzte vor Sorge.
"Darf ich mich zu dir setzen?", fragte er.
"Willst du mir etwa auch eine Rede darüber halten, wie irrational ich denke und dass ich die Mission gefährden werde?", gab ich zurück, worauf Thomas auflachte.
"Eigentlich", begann er und setzte sich neben ich, "wollte ich mich entschuldigen. Ich hätte dich verteidigen sollen und das habe ich auch gemacht, nachdem du rausgegangen bist."
"Danke", erwiderte ich. "Ich hasse Gally."
"Ich auch", sagte er. "War schön ihn mal wieder zu konfrontieren."
Ich lachte leise und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
"Als wir den Rechten Arm verlassen haben, um in die Stadt zu fahren, habe ich dich nicht alleine gehen lassen. Denkst du ernsthaft, dass ich jetzt ohne dich gehe?"
"Heißt das, ich darf mitkommen?", fragte ich hoffnungsvoll.
"Darfst du, aber ich musste Gally versprechen, dass du dich an den Plan hältst", sagte Thomas, worauf ich ihm um den Hals fiel.
"Danke, Tommy."
"Wir sind eine Familie, wir lassen niemanden zurück", flüsterte er, bevor ich mich aus der Umarmung löste.
"Ich habe Minho zurückgelassen", wisperte ich und spürte enormen Druck auf meiner Lunge, der mir die Luft zum Atmen nahm.
"Das haben wir alle."
"Ich liebe ihn doch. Ich hätte nicht gehen sollen. Das war feige."
"Wenn ich eins über dich weiß, dann dass du nicht feige bist", versuchte Thomas mich zu ermutigen.
"Es war egoistisch zu gehen", redete ich mir ein, worauf Thomas mir eine Hand auf den Rücken legte.
"Shay, du bist nicht egoistisch", erwiderte Thomas. "Du weißt, dass sie dich jetzt foltern würden, wenn du noch da wärst."
"Ich hatte eine Entscheidung zu treffen. Ich hätte bleiben können, mich der Folter stellen können, um bei Minho zu sein oder ich konnte weglaufen, wie ein Feigling fliehen."
"Dann sind wir alle Feiglinge", gab Thomas zurück. "Aber wir holen Minho da raus, okay? Und dann fahren wir zum Sicheren Hafen und leben ein wunderschönes Leben in Sicherheit. Du heiratest irgendwann Minho und wir leben für immer in Frieden."
"Wie sieht es eigentlich bei dir und Brenda aus?", hakte ich nach, worauf Thomas traurig lächelte.
"Ich mag sie wirklich. So sehr. Ich wünschte, ich könnte das sein, was sie in mir sieht, aber-"
"Du liebst auch Teresa", beendete ich seinen Satz.
Er nickte und fuhr sich durch die Haare. "Ich weiß nicht, warum ich sie nicht hassen kann."
"Das geht nicht so einfach, wenn man jemanden liebt."
"Sie hat uns verraten. Sie ist jetzt auf deren Seite. Ich würde sie gerne hassen wie alle anderen es tun, aber ich kann nicht", erzählte er.
"Wir hassen sie auch nicht. Sie hat uns verletzt. Manchmal will ich mich dazu zwingen, sie zu hassen, aber es tut nur weh an sie zu denken. Ich würde einfach nur gerne ihre Gründe kennen... Sie hätte uns nicht ohne guten Grund verraten, das weiß ich."
"Da seid ihr ja!", hörten wir Gally hinter uns rufen. "Kann ich mal mit Shay reden?"
"Ist das okay?", flüsterte Thomas mir zu, worauf ich unsicher nickte. Das letzte Mal als ich mit Gally alleine gewesen war, war das einer der schlimmsten Momente meines Lebens gewesen. Er hatte mich angefasst, mir meine Würde genommen.
Gally setzte mich neben mich und ich rutschte ein Stückchen auf, um nicht zu nah bei ihm zu sein. "Tut mir leid, dass ich dich da drin so angeschrien habe. Ich denke nur, dass du die Mission gefährden könntest. Wegen mir kannst du mitkommen, solange du dich an mich hältst."
"Ist das dein Ernst, Gally?", fragte ich empört. "Wenn ich mich an jemanden halte, dann an Thomas, Brenda, Pfanne oder Newt. Du hast mir rein garnichts mehr zu sagen."
"Wie bitte?", gab er zurück, seine Stirn runzelte sich.
"Weißt du noch im Labyrinth nach dem Grieverangriff? Als wir zwei allein im Sanitätsraum waren?"
Er schien kurz zu überlegen, bevor sein Gesichtsausdruck weicher wurde.
Die Szene verfolgte mich bis zum heutigen Tag. Seine gierigen Hände an meinem ganzen Körper, wie er mir mein Shirt vom Leib gerissen hatte. In diesem Moment hatte ich Angst gehabt, ich wusste nicht wie ich mich wehren sollte.
"Shay-"
"Du hast dich dafür niemals entschuldigt, Gally", sagte ich und kämpfte mit den Tränen, als ich an den Vorfall zurückdachte. "Und ich wollte niemandem davon erzählen, weil ich mich scheiße gefühlt habe. Du hast meine Gefühle verletzt. Du hast mir meine Würde genommen, Gally. Wie weit wärst du gegangen, wenn ich mich nicht gegen dich gewehrt hätte?"
"Ich wollte das nicht, Shay", murmelte er.
"Ach ja? War es etwa unverständlich, als ich dich angefleht habe, aufzuhören? Du hast es doch gehört, oder? Und trotzdem hast du weitergemacht. Und dafür hasse ich dich, Gally. Du wirst niemals verstehen, wie mich das gedemütigt hat."
"Es tut mir so Leid", murmelte er, fast sprachlos. "Ich wusste nicht, dass dich das so betroffen hat."
"Findest du nicht, dass das ein wenig zu spät kommt?", fragte ich ihn, als eine Träne meine Wangen hinunterkullerte.
"Warum hast du mir das nicht schon damals gesagt, Shay?"
"Weil mich jedes Wort, das ich mit dir wechsle, so unglaublich wütend macht", gab ich zu. "Manchmal wäre es wohl besser, wenn die Menschen ehrlich sagen würden, was in ihnen vorgeht, aber so funktioniert die Welt nicht."
Schweigend saß er vor mir und sah aus, als würde auch er gleich Tränen vergießen.
"Dich hat es damals nicht interessiert, ob du mich verletzt hast, aber Minho schon. Er hat dich verletzt, wie du mich verletzt hast. Normalerweise bin ich kein Fan von Gewalt, aber das hattest du verdient", sprach ich weiter. "Ich werde mitkommen, um Minho zu befreien, egal, was du von mir denkst. Ich tue, was ich für richtig halte und nur über meine Leiche folge ich dir. Was du mir angetan hast, war unverzeihlich, also musst du wohl damit klarkommen, dass wir in diesem Leben keine Freunde mehr werden."
Mit diesem Satz stand ich auf und ließ ihn allein zurück. Hilflos und verletzt, so wie er mich damals zurückgelassen hatte.

Lost [Maze Runner - Minho - Run Band 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt