Kapitel 1 (Trailer)

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~Herzschlag~

Ich musste meine Augenlider zwingen sich zu schließen. Trotzdem schaffte ich es nicht die Welt auszusperren. Ich schaffte es nur mich in meinen Gedanken einzusperren. Sofort riss ich sie wieder auf und starrte weiterhin geradeaus. Ein eiskalter Windstoß fuhr mir ins Haar und ließ es wie wild um meine Schultern peitschen, doch ich reagierte nicht. 

Ich weigerte mich meinen Blick von dem Meer zu richten, alles auf das ich mich konzentrieren konnte waren die Wellen, die mit unglaublicher Wucht gegen die Klippen schmetterten. Meine nackten Arme waren ungeschützt vor dem unbarmherzigen Wind, doch ich dachte nicht daran nach Hause zu gehen. Ich konnte nur daran denken, dass es für ihn nun für immer so kalt sein musste.

Nun war es fast eine Woche her seit er gestorben war. Fast ganze sieben Tagen in denen ich mit der Gewissheit leben musste, dass er für immer verschwunden war und ich ihn niemals wiedersehen würde. Die Tränen wollten nicht kommen. Seit dem Tag, an dem ich an seinem Grab geweint hatte weigerten sie sich mir Erleichterung zu verschaffen, indem sie mir gestatten würden, mir einmal die Seele aus dem Leib zu weinen.

Seit fast einer Woche hatte ich nun sein Gesicht schon nicht mehr gesehen und doch hatte ich ihn noch ganz genau in Erinnerung. Die strahlenden, grünen Augen, die Sommersprossen, die seine Nase besprenkelten, die kleinen Lachfältchen, die sich immer wenn er lachte um seine Mundwinkel bildeten. Die Art, wie seine Lippen sich zu einem Grinsen verzogen, wenn er mich sah. 

Die komische, unbewusste Zuckbewegung, die er immer mit seiner linken Augenbraue machte, wenn ihn etwas aufregte. Das leise Kichern, das tief aus seiner Brust zu kommen schien, das sich dann in ein unterdrücktes Grollen und später in ein lautes Lachen verwandelte, wenn er einmal versuchte über etwas nicht zu lachen. Die Art, wie er sich seine kurzen, braunen Haare nach hinten strich, wenn der Wind ihm die Frisur ruinierte.

All diese kleinen Feinheiten schienen in meinem Gehirn verankert zu sein und doch war es meine allergrößte Angst sie zu vergessen. Ich hatte Angst, dass ich eines Tages aufwachen würde und die Art vergessen haben würde, wie seine Augen jeden Morgen strahlten, wenn wir zusammen auf dem Weg zur Schule waren. Ich hatte Panik, dass ich jemals aufwachen und nicht mehr wissen würde wie das Gesicht aussah, das zu der besten Person dieser Welt gehörte.

Das war es. Er war einfach zu gut. Zu gut für diese verdorbene Welt. Sein Herz war zu schön und zu liebevoll, als dass es noch lange hätte weiterschlagen können. Das war auch der Grund warum es versagt hatte. Das musste einfach der Grund sein. Ich wünschte ich könnte sagen, dass Tränen in meinen Augen standen oder dass sie vom Wind davongetragen wurden, doch meine Augen blieben trocken.

Sein Herz hatte schon immer einen zu leichten Schlag gehabt, es war unregelmäßig und flatterhaft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Es war zu sanft, um hier auf dieser verdammten Welt zu überleben. Und obwohl ich ihm wünschte, dass er nun an einem Ort war, an dem sein Herz mit voller Kraft gegen seine Rippen pochte und an dem er nach Lust und Laune herumlaufen und aus vollem Halse lachen konnte, hatte er doch jedes Licht aus meiner Welt mitgenommen, als er gegangen war.

Erst jetzt wurde mir klar, wie erdrückend dunkel diese Welt ohne ihn war, wie sehr er es verdient hätte hier zu bleiben, wo er es doch so sehr wollte. Er hatte jede Sekunde seines Lebens dafür gekämpft. Obwohl er niemals so war wie alle anderen. Er war besser. Er sah das Beste in jedem Moment seines Lebens, als ahnte er, dass es auf so kurze Zeit begrenzt sei. Er versuchte jede Sekunde mit einem Lächeln aufzuhellen, auch in den dunkelsten Zeiten. Wenn alle um ihn herum die Hoffnung verloren hatten, war er derjenige, der sie bewahrte.

Und nun war er weg.

Ein Gefühl von Schmerz und Verzweiflung attackierte mein Herz. Ich zuckte zusammen und drückte mir eine Hand gegen die Brust, die Augen fest zusammengepresst. Diese Erinnerungen schmerzten, sie schmerzten so unglaublich. Und was noch mehr schmerzte, war die Gewissheit, dass ich nichts tun konnte, um ihn jemals wieder zu sehen, dass ich die Zeit niemals zurückstellen würde können, um die Momente, die mir mit ihm gegönnt waren mehr zu genießen.

HerzschlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt