Kapitel 12 - Ende

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~Herzschlag~

Und meine Hölle schien sich immer und immer weiter auszudehnen. 

Ich rannte so lange, bis ich schließlich keuchend, mit den Händen an den Knien abgestützt stehen blieb. Mein Atem ging rasselnd, die Luft war zu kalt, um sie so schnell einzuatmen, sie brannte in meinem Hals. Meine Schultern hoben und senkten sich mit jedem Atemzug, mein kompletter Körper zitterte. 

Auch wenn mir vorher schon kalt war, schien es als hätte mich die Kälte erst jetzt so richtig erreicht. Sie schien mir jeden einzelnen Funken Wärme, den ich noch im Körper hatte entziehen zu wollen und machte es mir schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Ich wusste, dass ich jetzt nach Hause gehen sollte, mich in mein warmes Bett legen und versuchen gegen das Loch in meiner Brust anzukämpfen.

Doch da lag das Problem. Ich wollte nicht mehr kämpfen, ich konnte es nicht mehr. Es schien, als wäre ich zu tief gefangen in dem Sumpf aus Trauer und Schmerz, in dem ich mich seit seinem Tod befand. Es war, als würde sich das schwarze Loch immer und immer tiefer in meine Brust graben und seine Klauen immer weiter in mein Fleisch schlagen, bis es mir den Atem raubte.

Ich wollte nicht mehr kämpfen, ich wollte nicht mehr um jeden einzelnen Atemzug ringen müssen, wollte nicht mehr den Schmerz fühlen, der mit jedem Herzschlag durch meine Adern schoss. Ich wollte mich hinlegen, die Augen schließen und mich nie wieder darum kümmern müssen, ob genug Luft in meine Lunge strömte, mich nie wieder darum kümmern müssen, dass mein Körper nicht erfror, ich wollte den Schmerz vergessen.

Tief in meinen Erinnerungen gab es Bilder, auf denen ich glücklich war. Ich erinnerte mich an viele dieser Dinge, als hätte ich sie aus einer dritten Perspektive gesehen. Ich wusste, dass es Zeiten gab, in denen meine Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen waren, es gab Augenblicke, in denen meine Augen strahlten vor Glück oder Freude. 

Ich wusste, dass es Momente in meinem Leben gab, an denen ich gelächelt, gelacht hatte. Momente, in denen ich mich fühlte, als würde ich schweben, so viele Bilder stürmten in meinen Kopf, sie alle zeigten mir, was ich einmal war. Ich umfasste meinen Kopf mit beiden Händen und biss meine Zähne ganz fest zusammen, ich wollte nichts mehr, als sie loswerden.

Sie führten mir das vor Augen, von dem ich wusste, dass ich es nie wieder haben würde, sie zeigten mir das Glück, das ich für immer verloren hatte und ich ertrug es nicht das zu sehen, ich ertrug es nicht mich an dieses Mädchen zu erinnern, an dieses fröhliche Gesicht, das meinem so sehr ähnelte und sich doch so fremd anfühlte, als stamme es aus einem anderen Leben.

Dieses Mädchen hatte einen hübschen, Jungen mit einem breiten Lachen und funkelnden, grünen Augen an ihrer Seite, einen Jungen wie er lebendiger nicht hätte sein können. 

Das Mädchen, das jetzt mitten in einer kalten Herbstnacht auf der Straße in die Knie ging, den Kopf voller Bilder hatte ein Skelett an ihrer Seite. Eine furchtbar grinsende Fratze, an der nur noch Hautstücke des Lachens hingen, das es einmal gehabt hatte. Ein Skelett bei dem anstelle von funkelnden, grünen Augen nur schwarze Löcher sie anblickten. Ein Skelett, das so viel weniger lebendig war, als sie es sich jemals hätte vorstellen können.

Mein Kopf schien explodieren zu wollen mit all den Erinnerungen und Bildern, die plötzlich auf mich einstürmten. Ich sah zwar das Lächeln auf meinem Gesicht, doch ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie ich mich damals gefühlt hatte. Glück, oder gar Freude lagen so weit außerhalb meiner Reichweite, dass ich nicht einmal einen Hauch von dem Gefühl verspürte, das ich damals empfand.

Das ließ mich aufschluchzen. Wie eine Diashow zogen die Bilder meines Lebens vor meinen Augen vorbei und jedes einzelne beinhaltete ihn. Da war nur er, er, er. Ich schaffte es mich wieder aufzuraffen und schleppte mich von der Straße herunter. 

HerzschlagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt