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Mia schreckte aus dem Dämmerschlaf auf, als Rahel sie sachte an der Schulter rüttelte. Verwirrt und verlegen, weil sie überhaupt eingepennt war, setzte sich Mia auf und sah aus dem Autofenster hinaus.

„Sind wir schon da?", fragte sie ihre Schwägerin krächzend und heiser flüsternd, wobei sie das Halstuch noch einmal neu band, das die große grausige Narbe an ihrer Kehle verdecken sollte.

Die Narbe, die ihr ihr eigener Mate, der mächtige Taunus-Alpha Torben,

am Tage des ersten und letzten Alphaballes zugefügt hatte, den sie je besucht hatte. Das war nun schon vor mehr als eineinhalb Jahren gewesen, im Herbst ... auf einem Mateball im Schwarzwald.

Auch wieder so ein Ereignis, an das sie nicht gerne zurückdachte und welches ihr Alpträume bereitete.

„Noch fünf Minuten bis zur Grenze.", berichtete ihre Freundin und Dareds Gefährtin Rahel ihr nun sehr besorgt und sah sie nur wieder ganz kurz zweifelnd an. „Du weißt, was ich hiervon halte, Mia. Du bist jetzt schon so krank. Lass uns doch einen Boten schicken, ... einen Brief ..."

„Werwölfe schicken sich keine Briefe, Rahel.", erwiderte Mia nur wieder düster krächzend, was schlimm und irgendwie nach Kehlkopfkrebs klang.

Tja.

Vielleicht sollte sie einfach demnächst mal Zeichensprache lernen, um sich weniger quietschend verständlich machen zu können. Kurz den Kopf schüttelnd, weil sie genau wusste, was jetzt darauf folgen würde, atmete Mia tief und resignierend durch. Und richtig.

„Nun, diese Werwölfin hier und Luna des Schwarzwaldrudels wird es aber mit Sicherheit tun! Denn du bist immer noch meine Schwägerin. Dareds kleine Schwester ... und viel mehr noch meine Freundin, Mia!", meinte sie besorgt, doch Mia schüttelte diesmal nur stumm den Kopf. Es hatte wirklich überhaupt keinen Zweck, mit der viel zu menschlichen Rahel über Werwolfsitten zu streiten. Sie würde sie einfach nie verstehen. Also war es wohl am besten, es von vornherein sein zu lassen, dachte sie nur bei sich und versuchte nur rasch, den Alptraum, dessen Bilder sie noch heute ständig verfolgten, wieder los zu werden. Der Tag, an dem sie dachte, sie hätte nicht nur Baba, sondern auch ihre Mahmen verloren ... Aber der letztere Tag war heute. Mahmen war bei Dared geblieben, denn dort würde sie nämlich sicherer sein als im Taunus bei den fiesen Rogues des grausigen Alpha Torben. Oh nein. Was er wohl alles mit ihrer Mahmen getan hätte, nur um Mia zu irgendetwas zu zwingen ... Das wollte sie sich lieber gar nicht ausmalen.

Das Auto hielt an.

„So ... hier sind wir kurz vor der Grenze. Nur noch dreihundert Meter, Mia!", meinte Rahel leise zu ihr und griff mal wieder nach ihrer Hand, doch Mia öffnete schlicht ihren Sicherheitsgurt und stieg aus.

Da war hoher, dichter Wald, ... viel Gebüschlandschaft und nahestehende Bäume. Sah aus wie auf den Bildern von Google Maps, die sie sich angesehen hatte, ... ja, wirklich, ... haargenau so.

„Bist du dir denn auch wirklich ganz sicher, Mia?", fragte ihre Schwägerin Rahel sie nun bestimmt schon zum hundertsten Mal, während nun auch sie ausstieg und um den Wagen herumgelaufen kam, mit kurzem, besorgten Blick, die Straße entlang. Zu Recht besorgt ... Denn sie wurden hier sicher schon von den Wächtern des Taunusrudels beobachtet, dachte Mia nur wieder leicht zittrig fühlend, während die Mate ihres Bruders und inzwischen gute Freundin ihr noch schnell aber besorgt dabei half, ihr ihren Rucksack und den Eisenstab aus dem Kofferraum herauszuholen.

Kurz übermannte sie dabei wieder ein Zitteranfall und sie wusste, dass ihre Hand ganz sicher schon glühte, denn der Eisenstab fühlte sich an wie Eis auf ihrer bloßer Haut. Sie war bisher schon viel zu weit gegangen, hatte diesen letzten Schritt schon viel zu lange herausgezögert. Das hier musste sie nun also einfach noch durchziehen, bevor es für alles andere zu spät war. Schnell wechselte sie hinüber in den Rudellink.
Er hat mich nicht abgeholt, Rahel. Er hat gesagt, er würde an meinem sechzehnten Geburtstag kommen, aber seit Wochen warte ich und warte und bei ihm geht keiner ans Telefon oder der Anschluss ist gesperrt.
Was, wenn er verletzt ist oder gefangen genommen wurde, und ich weiß nichts davon? Ich bin hier die Luna des Rudels, also denke ich nicht, dass sie mich gleich zusammenkloppen werden. Aber falls doch, habe ich ja immer noch die Eisenstange, sagte Mia angespannt, aber stumm zu ihr. So war es auch viel besser. So hatte sie zumindest eine richtige Stimme.

„Sicher, dass ich dich nicht doch besser noch ein kleines Stück begleiten soll?", fragte Rahel sie noch einmal besorgt und Mia lächelte sie beruhigend an.
Danke, aber nein, danke! Du bist immerhin die Luna eines potenziell feindlichen Rudels, okay? Die würden dich killen, wenn sie es auf Dared abgesehen hätten oder aber ein hohes Lösegeld für dich verlangen.
Bei so etwas solltest du echt mal vorsichtig sein. Gilt übrigens auch für Dennis. Wenn du ihn trotzdem nochmal siehst, grüße ihn bitte lieb von mir. Ich werde euch allen ein Lebenszeichen schicken oder zumindest eine Karte, ... wenn mein neuer Alpha und Mate mich das tun lässt.
Kann aber auch sein, dass er mir den Umgang mit euch nun ab sofort komplett verbietet und wir kehren zurück zur alten Feindschaft, spottete sie kurz und räusperte sich dann sichtlich angespannt.
Rahel sah sie nun mit Tränen in den Augen an.
„Wenn ich etwas an diesem Werwolfdasein wirklich hasse, dann diese abgesprochenen Feindschaften. Ich habe dich lieb, Mia, für immer, okay? Diese dämlichen Rudelgesetze mit diesen unsinnigen Grenzen und Feindschaften, die schon seit Generationen bestehen und wo auch keiner mehr weiß, was sie überhaupt mal ausgelöst hat, können mich mal kreuzweise, klar? Einmal Freundin, immer Freundin und du bist tatsächlich noch viel mehr für mich, Mia! Eher so etwas wie eine kleine Schwester! Also pass bloß auf dich auf und schreib mir. Sonst überrede ich Dared doch noch dazu, hier einzufallen und hole dich einfach zurück.
Und das kannst du Torben auch gerne noch genau so von mir ausrichten. Ich hasse es, wie er dich behandelt hat. Das tut kein Wesen, das freundlich und gut ist. Und wenn er dir verbietet, mir zu schreiben, dann ruf mich wenigstens mal heimlich an. Du hast dein Handy. Du hast SMS. Du kennst auch das Codewort. Und ich werde dir auf jeden Fall einmal im Monat schreiben. Der Brief braucht einen, höchstens zwei Tage hierher, also pass jeweils am ersten bis dritten des Monats auf, falls sie deine Post unterschlagen! Und es ist mir total egal, was eure blöden Wolfsgesetze nun auch immer davon halten.", umarmte sie die Jüngere noch einmal und Mia hätte nun beinahe ebenfalls losgeweint.
Es gelang ihr nur noch so gerade eben sich zu fassen und ihr zuzunicken, mehr nicht. Dann stieg Rahel leise schniefend wieder in den unauffälligen Mietwagen ein, hupte ihr nochmal aufmunternd zu und fuhr davon.
Ein Glück.

Noch mehr von Rahels menschlicher Abschiedsprozedur hätte sie sonst nämlich nicht mehr ertragen, ohne darüber in Tränen auszubrechen.

Mia sah den Rücklichtern des Autos so lange traurig nach, bis sie um eine Kurve gefahren und verschwunden waren, weil sie nämlich genau wusste, dass eine Freundschaft oder sogar Verwandtschaft unter Lunas beim Verlassen des Rudels schlagartig endete. Nun und ihre Verwandtschaft mit Rahel endete jetzt. Heute. Hier!

Nur einzig Rahel wollte nichts davon wissen.
Menschen hatten es doch immer so viel leichter und besser ... und ihre Schwägerin hatte selbst in eineinhalb Jahren noch nicht wirklich begriffen, wie tief die Differenzen unter den Rudeln tatsächlich gingen und dass sie, Mia, nun ab sofort dazu verpflichtet sein würde, sich an die neuen Gesetze und Regeln dieses wilden Rudels hier im Taunus anzupassen. - Möge Luna ihr dabei gnädig sein.

Der Taunus war schon immer der Feind der Schwarzwald-Wölfe gewesen. Und einzig deren Alpha konnte darüber entscheiden, ob es auch weiterhin so bleiben würde. Alpha Torben.

Ihr Mate, der sie nicht wie versprochen an ihrem Geburtstag abgeholt hatte. Es war so demütigend für sie gewesen. Denn das ganze Rudel hatte den ganzen Tag lang auf ihn und seine Gefolgschaft gewartet ... und dann noch den nächsten ... und den übernächsten auch noch ... Bevor Rahel schließlich entnervt die Regeln gebrochen und bei ihm angerufen hatte ... und keiner rangegangen war.

Warum hatte er sie denn erst gebissen, wenn er sie nun aber doch ablehnte? Warum hatte er ihr letztes Jahr diesen idiotischen menschlichen Spezialisten für ihre Kehle geschickt, der sie auch noch operiert hatte? Und warum bestimmte er immer noch über sie, ... wenn sie ihm doch so offensichtlich gar nichts bedeutete?

Nein, da lief irgendetwas falsch. Irgendetwas war passiert. Ihre innere Wölfin war schon seit Wochen besorgt und beunruhigt. Also hatte sie sich nun selbstständig auf den Weg gemacht, hatte heute auch nur leichtes Gepäck dabei, damit sie im Notfall schnell abhauen konnte.

Sie würde in dem Fall zwar einige Tage lang zurückzulaufen haben, aber ihr Bruder würde seine Wächter nun ganz sicher bis an die Grenze schicken, die nach ihr Ausschau halten würden.
Angespannt und unsicher schulterte sie nun ihren kleinen Rucksack und sah die Straße entlang.

Seelenverwandt Mia - Die Luna des Alpha,# WinterAward2018 (Teil 2) abgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt