6. Türchen

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Wie in Zeitlupe schaffte Wanna es, den Stein zu bewegen

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Wie in Zeitlupe schaffte Wanna es, den Stein zu bewegen. Ihr Plan war, ihn mit voller Wucht gegen Orvid prallen zu lassen, damit er aufgab und sich mit seinen blutrünstigen Freunden davon machte.

Aber das Schicksal meinte es in diesem einen Augenblick gut mit ihr: Bevor sie einen anderen Lasin verletzen konnte und ihre besondere Fähigkeit preisgab, war ein sehr lautes, eindringliches „HÖRT AUF!" zu hören.

Unmittelbar darauf tauchte auf dem Platz eine Gruppe von Menschen auf, allen voran Richter Qalm aus Glacies, der sich oft für die ärmeren Lasins einsetzte. Wanna konnte zwischen ihnen auch Orvids Vater erkennen, und ausgerechnet ihren eigenen.

Als hätte es ein Stichwort gegeben, schaute Willem in diesem Moment auf und entdeckte seine Tochter auf dem Felsvorsprung. Mit einer kaum merklichen Kopfbewegung bedeutete er ihr, zu verschwinden.

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen.

Irgendwie schaffte sie es, vom Berg herunter zu kommen, war sich aber ziemlich sicher, dass sie nicht denselben Weg wie vorhin zurückgelegt zu haben.

Am Fuße des Berges wartete sie. Nervös tigerte sie durch den Schnee, hin und her, her und hin. Irgendwann nahm sie sich vor, nur noch in ihre Fußstapfen zu treten, um nicht einzuschlafen.

Die Wahrheit war: Ihre Zauberkraft zu verwenden hatte sie ausgelaugt. Am liebsten hätte sie sich eingerollt und geschlafen, bis ihr Vater sie abholte, aber die Nacht brach allmählich herein und sie hatte Angst, wenn sie jetzt einschlief, würde sie unter Umständen nie wieder aufwachen.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit – in Wahrheit aber wahrscheinlich nicht ganz so lange – bis die Erwachsenen mit den Kindern im Schlepptau ebenfalls am Fuß des Berges auftauchten. Als Wanna ihren Vater sah, der den verletzten Férox im Arm hielt, verwandelte sie sich in ihre menschliche Gestalt zurück und lief ihm entgegen.
Fedwick humpelte neben ihm.

Als sie an Orvids Vater vorbeilief, bedachte dieser sie mit einem abwertenden Blick. Er hatte eine Hand in den Nacken seines Sohnes gelegt, als hätte er ihn an eine Leine genommen. Als Orvid den Mund öffnete, um Wanna eine Beleidigung an den Kopf zu knallen, zischte sein Vater und schlug ihm in den Nacken.

Trotz allem, was an diesem Tage geschehen war, empfand sie Mitleid für Orvid. Es musste schrecklich sein, von seinem Vater geschlagen zu werden, bloß weil man einen Fehler begangen hatte.

„Sie werden bestraft werden", sagte Willem, als seine Tochter bei ihm ankam. Qalm, der Richter, nahm ihm Férox ab.

„Kommt, Jungs", sagte er freundlich. „Euer Vater ist ein alter Freund von mir. Ich bringe euch nach Hause. Willem?"

Willem nickte zustimmend, ohne die Frage zu kennen. „Ich schicke einen Heiler."

„Gut. Wir sprechen miteinander, wenn ich wieder da bin."

Wanna und Fedwick sahen sich ein letztes Mal an.

Und vielleicht hätte sie irgendetwas anders gemacht, wenn sie gewusst hätte, dass es für eine lange Zeit das letzte Mal sein würde, dass sie einander in die Augen blickten.

Aber so beließ sie es einfach dabei und blickte ihm schließlich hinterher, während er neben Qalm nach Hause humpelte.

Willem und Wanna hingegen sonderten sich von den anderen Lasins ab; sie achteten auf einen sehr ausgeprägten Sicherheitsabstand, während sie gemächlich zurück nach Glacies gingen.

„Hat Pit euch geholt?", fragte sie.

„Der kleine Junge?"

„Ja."

„Ja. Und er hat deine Tasche vorbeigebracht. Und die von Fedwick."

„Oh", machte sie, und zuckte mit den Schultern. „Ich kann sie ihm in der Schule geben."

Willem seufzte. „Wanna", begann er sanft und vorsichtig. „Es wird wohl das Beste sein, wenn Fedwick und sein kleiner Bruder eine Zeit lang ... nicht in Glacies unterrichtet werden."

Er hatte seinen Satz noch nicht ganz zu Ende gebracht, als Wanna auf der Stelle stehenblieb und mit einem vehementen „Nein!" reagierte.
Fassungslos starrte sie ihren Vater an. „Wenn wir jetzt einknicken, hat Orvid doch gewonnen! Dann hat er es geschafft, Mischkinder zu vertreiben, und das darf einfach nicht passieren!"

Doch Willem legte bloß seinen Kopf schräg und sagte: „Es gibt kein Wir, Liebes." Seine Stimme klang ehrlich bestürzt, während er mitansehen musste, wie die Augen seiner jüngsten Tochter ganz wässrig wurden.

„Was soll das heißen?", fragte sie zischend und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein trotziges Kind, das nicht weitergehen wollte.

Hier war es. Eines der Gespräche, die Willem seit Jahren fürchtete; seit Wanna zum ersten Mal mit Fedwick im Schlepptau nach Hause gekommen war.

Er schluckte schwer. „Liebes, Orvid und seine Familie sind nicht die Einzigen, die so engstirnig denken. Viele Lasins halten Reinheit der Rassen für oberste Priorität und in anderen Städten ... Manchmal werden Lasins wie Fedwick und sein Bruder einfach nur verjagt. Aber oft werden sie brutal hingerichtet, vor aller Augen, damit jeder wieder an die Reinhaltung erinnert wird. Es ehrt dich, nicht in diesen Schubladen zu denken, und ich kann dir nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin. Aber für Fedwick und Férox ist es sicherer, Glacies zu meiden."

Sie sog scharf die Luft ein und drückte ihre Arme ganz fest an sich, als wollte sie sich selbst daran hindern, zusammenzubrechen. „Aber ... er ist mein bester Freund!", schluchzte sie, und als sie in Tränen ausbrach, war ihr Vater ganz nah bei ihr, um sie zu halten.

„Ich weiß, Liebes. Ich weiß", flüsterte er und streichelte ihr über den Kopf, während sie an seine Brust gelehnt weinte.

„Was ist mit König Timur?", schluchzte sie in letzter Verzweiflung. „Er kann doch etwas dagegen tun!"

„Oh, das hat er versucht", sagte Willem ehrlich. „Aber vor langer Zeit hörte er auf, sich um alle Belange seines Landes zu kümmern."

Das brachte Wanna nur mehr zum Heulen. Es war, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen.

Im Nachhinein wusste sie nicht, wie lange sie so mit ihrem Vater dastand und weinte. Aber als ihre Tränen versiegt waren und dem Gefühl von absoluter Leere wichen, die immer auf pure Verzweiflung folgte, trat sie einen halben Schritt von ihm weg, blickte in seine vertrauten, blauen Augen, und sagte: „Ich will dass du mich wieder in Magie unterrichtest, Vater."

Die letzte KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt