Sechs Jahre später
Die nächsten Jahre hielt sich Wanna eisern an ihr Vorhaben. Wannimmer Willem mit ihr und Walpyxa in den Wald gehen wollte, um ihnenetwas Neues beizubringen, weigerte sie sich. Sie blockierte sichselbst damit so stark, dass sie bald schon nicht einmal mehr dieTricks beherrschte, die ihr Vater ihr ganz am Anfang beigebrachthatte.
Während ihre Schwester trotz des Zwischenfalls nie aufhörte,weiter zu lernen, fiel Wanna zurück in ihr altes Leben. Ihre Neugierund Faszination waren mit den Jahren zu einem tiefen Groll gegenZauberei geworden, und ein Teil von ihr verabscheute ihre Schwesterdafür, dass sie die böse Macht nie erkannt hatte.
Aber davon ließ sie sich nie beirren. Sie wollte zwar nichts mitMagie zu tun haben, aber davon einmal abgesehen wuchs sie zu einemfröhlichen, geduldigen Mädchen heran. Stets blieb sie höflich, sowie ihre Mutter sie erzogen hatte, und so war sie sogar auf demMarktplatz zwischen den reichen Lasins ein gern gesehener Gast.
Für gewöhnlich verkehrten die ärmeren Lasins nicht auf demMarkt. Die Händlerbuden mit ihren exotischen Früchten und teurenKleidern waren nicht für sie gedacht.
Immer, wenn Willem und Walpyxa im Wald verschwanden, hielt Wannaes nicht mehr zu Hause aus. Sie machte sich auf den Weg und streiftedurch Glacies' Straßen. Einmal, es musste letzten Winter gewesensein, stolperte sie bei einem ihrer Rundgänge über den Markt.
Ein Teil von ihr wollte umkehren. Sie wusste, dass sie nicht hiersein sollte. Für die Armen gab es hin und wieder ein paar Händler,die vor dem Stadttor kampierten, und das nötige Obst und Gemüseanbauten. Das waren ihre Leute.
Hier hatte sie nichts zu suchen.
Aber die unbekannten Gerüche und die losgelassene Stimmung derBesucher lockten sie an. Nur einmal wollte sie über den Platzschlendern.
Dabei duckte sie sich, oder ging nie nah genug an die Ständeheran. Meistens stellte sie sich auf die Zehenspitzen, damit sie diebunten Gaben bestaunen konnte.
So war sie einem jüngeren Mädchen begegnet. Es hatte damalseinen purpurnen Mantel getragen und ihr braunes Haar war aufwändiggeflochten, als sie Wanna anstupste. „Warum gehst du nicht näherheran?", hatte sie gefragt, und Wanna war auf die Schnelle keinegute Ausrede eingefallen. Daraufhin hatte das Mädchen sie mit sichgezogen und ihr einen Stand mit wunderschönen, glitzerndenSchmuckstücken gezeigt.
An den Namen des Mädchens konnte sich Wanna nicht mehr erinnern.Aber ihre Begegnung hatte ihr einen kleinen Schritt in eine andereWelt ermöglicht. Da sie das Mädchen danach nie wieder gesehenhatte, schätzte sie, sie war bloß ein Gast in Glacies.
Wanna wurde in Gespräche verwickelt, und viele der älterenFrauen bewunderten ihre Schönheit und ihre Intelligenz. Immer wiedersagten sie, wie froh sie wären, wenn einer ihrer Söhne sie einesTages ehelichten könnte.
Eine Heirat kam Wanna zwar nie in den Sinn, aber sie genoss dieAufmerksamkeit und die Nettigkeiten, weshalb sie sich danach öfterszum Marktplatz schlich.
Fedwick war der Einzige, dem sie von ihren Ausflügen berichtete.Und anders als sie war er nicht begeistert.
„Was tust du, wenn sie herausfinden, wer du wirklich bist?",fragte er sie eines Tages leise flüsternd im Unterricht.
Sie zuckte mit den Schultern. „Was sollte ich schon tun?"
„Anders gefragt: Was glaubst du, würden sie tun?"
Zur Antwort rollte sie ganz offensichtlich mit ihren Augen. „Siewerden mich schon nicht mit brennenden Fackeln aus der Stadttreiben."
Doch Fedwick schien nicht überzeugt.
Seit ein paar Monaten ließ er sich von seinem Vater im Nahkampfausbilden. Das war bei den Jungs so üblich wenn sie das richtigeAlter erreicht hatten, genauso wie die Mädchen von ihren Mütternlernen sollten, wie man kochte und einen Haushalt pflegte. Wannahielt nicht viel von dieser strikten Rollenverteilung, aber siemusste zugeben, dass ihr bester Freund dadurch an Muskelmassezugelegt hatte, die ihm einige Blicke der anderen Mädchenbescherten.
Seit dem dachte er allerdings auch viel mehr strategisch. Wannakonnte die Veränderung, die er durchmachte, nicht genau in Wortefassen; aber sie wusste, dass ihr diese neue, kämpferische Art anihm nicht gefiel. Manches Mal schien er sogar zu glauben, dass diemeisten Lasins nichts anderes tun konnten, als sich zu bekämpfen.
Natürlich hatte er ein Stück weit Recht. Von den Unruhen undkleineren Aufständen in anderen, benachteiligteren Städten hattesie auch schon gehört. Am Stadtrand von Glacies wusste man längst,dass König Timur seinen königlichen Pflichten nicht ganz sointensiv nachkam, wie er sollte.
Aber das betraf ja nur die ärmeren Städte, und Wanna tummeltesich ja zwischen den reichen Lasins – da konnte nichts schiefgehen.
„Du machst dir zu viele Sorgen", sagte sie deshalb zu ihrembesten Freund, packte ihre Schulsachen zusammen und stand von derBank auf.
„Und du dir zu wenige", entgegnete er und tat es ihr gleich.
Als sie das Gebäude verließen, stand dort vor der Tür einkleiner Junge, der mit Fedwicks jüngerem Bruder Férox befreundetwar. Er wirkte nervös, und als er die Beiden entdeckte, tänzelte ervon einem Fuß zum anderen.
„Hey Pit", begrüßte Fedwick ihn und wollte achtlos an ihmvorbeilaufen, als Wanna einer plötzlichen Eingebung folgendstehenblieb, zu dem Jungen zurückging und fragte: „Was ist los?"
„Gar nichts!", quiekte er und seine Stimme klang viel zu hoch.
Wanna kniff ihre Augen zusammen und musterte ihn eingehend. Dannsagte sie: „Du stinkst danach, etwas zu verbergen. Na los, spuck esaus!" Mit einer flüchtigen Handbewegung deutete sie auf Fedwick,der verwirrt dreinblickend stehengeblieben war. „Du kannst unsvertrauen. War irgendjemand gemein zu dir?"
Es wäre nicht das Erste mal, dass sich Orvid an Jüngerenvergriffen hätte. Aber weil er der Sohn eines der reichsten Lasinswar, ließ man ihm jeweilige Schandtat durchgehen.
Man konnte es zwar nicht verhindern, aber sich um dieverschreckten Kinder kümmern.
Doch Pit schüttelte seinen Kopf. Er biss sich auf die Unterlippeund warf einen wertenden Blick zu Fedwick, als müsste er ganz genauüberlegen, was er als nächstes sagte.
Und dann sprudelten die nächsten Worte einfach aus ihmheraussprudelten: „Sie haben Férox!"
DU LIEST GERADE
Die letzte Königin
FantasyEin Palast, gebaut aus Schnee und Eis. Eine Stadt um ihn herum erbaut, so pompös, dass sie alles in Schatten stellt, was du je gesehen hast. Und ein junges Mädchen, die im armen Stadtrand aufwächst und ihre ganz besondere Gabe erkennt.