Die Hektik brach innerhalb weniger Sekunden aus. Wanna und Fedwick tauschten noch einen hastigen Blick, dann machten sie auf dem Absatz kehrt und rannten, so schnell sie konnten, zum nächsten Stadttor. Dort warfen sie achtlos ihre Taschen in den Schnee, beugten sich vor und verwandelten sich. Als sie Glacies hinter sich ließen, bohrten sich ihre Tatzen in den Schnee hinein.
Aus dem Augenwinkel heraus bekam sie mit, wie der kleine Junge ihnen folgen wollte. Er hatte gerade das Tor erreicht und wollte sich in seine Tiergestalt begeben, als sie kurz innehielt und ein so tiefes Grollen aus ihrer Kehle presste, dass sie vor sich selbst erschrak.
Der Junge kam strauchelnd zum Stehen und blickte ihnen mit großen, besorgten Augen hinterher. Doch statt sich ihr zu widersetzen, nickte er und sammelte ihre Taschen auf.
Er würde warten, da war sich Wanna sicher.
Mit einem großen Satz folgte sie Fedwick.
Orvid war im selben Sommer geboren wie Wanna. Nur ein paar Tage lagen zwischen ihnen. Vielleicht hatte sie deshalb nie verstanden, wie aus Orvid ein so bösartiges Kind werden konnte.
Und bösartig war das einzige Wort, welches ihm gerecht wurde.
Als sie jünger gewesen waren, hatte er sie nur gehänselt. Sie eine Misces zu nennen, war damals noch das Schlimmste gewesen, das er getan hatte. Aber je älter er wurde, desto grausamer wurden seine Fantasien, und seine Opfer wurden jünger. Laut einem hartnäckigen Gerücht hatte er wohl mal gemeinsam mit seinen Kumpanen ein Mädchen in die Berge geführt, das seitdem kein Wort mehr sprach.
Wanna wusste nicht, ob an diesem Gerücht wirklich etwas dran war. Erstens, konnte sie sich nicht vorstellen, was so schlimm sein konnte, dass man seine Sprache dadurch verlor, und zweitens, wollte sie nicht wissen, dass ein einzelner Lasin zu so etwas fähig war – was immer es auch war.
Dennoch war ihre Sorge berechtigt.
Orvid prahlte immer mit seinem reinen Stammbaum. Seine ganze Familie hielt sich für etwas Besseres. Wanna war ihnen einmal auf dem Markt begegnet.
Gut, von einer Begegnung konnte man kaum sprechen, vielmehr hatte sie ihn mit seinen Eltern aus der Ferne gesehen.
Er, der Vater, war besonders großgewachsen und breitschultrig, wirkte sehr stark und Wanna konnte sich die dicken Muskeln unter seinem Mantel sehr gut vorstellen. Er trug einen edlen, glänzenden Hut. Ihr Vater Willem hatte auch so einen, aber längst nicht mehr so gut erhalten.
Sie, die Mutter, trug einen Mantel, dessen Saum durch den Schnee schleifte, und ihre Nase dafür umso höher. Sogar ihre Hände waren mit weißem Stoff bedeckt.
Gemeinsam wirkten sie nicht nur vornehm, sondern eiskalt.
Wanna schüttelte ihren Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben, und konzentrierte sich auf den Weg. Bis zu den bergen im Norden war es nicht weit, aber der Aufstieg würde anstrengend werden, zumal sie nicht wissen konnten, wo sich Orvid mit seinen Leuten befand.
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Die letzte Königin
FantasyEin Palast, gebaut aus Schnee und Eis. Eine Stadt um ihn herum erbaut, so pompös, dass sie alles in Schatten stellt, was du je gesehen hast. Und ein junges Mädchen, die im armen Stadtrand aufwächst und ihre ganz besondere Gabe erkennt.