Relativ schnell war Viktors Shirt verschwitzt, denn es war ein weiter Weg. Busse und Bahnen fuhren seit der neuen Zeitrechnung nicht mehr. Taxen waren verdammt teuer und selten geworden. Die Leute aus den Ghettos und die Obdachlosen zogen in die leeren Häuser derer, die genug Silber hatten um sich in ''Sicherheit'' zu bringen.
Er schnappte sich einen grünen Apfel aus einem Obststand und schlenderte den Rest des Weges weniger entschlossen. An der Straße setzte er sich auf die Bank einer zugesprayten Bushaltestelle und beobachtete den Eingang des Hochhauses, in dem seine Familie wohnte. So ganz ohne Waffen war er früher nie draußen und fühlte sich alles andere als wohl. Vor Vampiren war er jetzt wohl sicher, aber seit es kaum noch Polizeipräsenz auf den Straßen gab, waren Überfälle von Menschen an der Tagesordnung. Kein Respekt mehr vor der eigenen Art, dachte er verächtlich, biss ein letztes Mal in den gestohlenen Apfel und warf die Reste über seine Schulter.
Er wusste nicht, was er tun sollte. Seine Familie dachte, dass er tot war. Einfach durch die Tür hinein zu spazieren, erschien ihm nicht ganz angemessen. Dann nahm er seinen Mut doch zusammen, atmete tief durch und stand wieder auf.
Viktor klopfte an die Tür. Nichts geschah. Keine Geräusche. Die Sonne würde bald wieder unter gehen. Sie mussten Zuhause sein. Sein Herz fing an zu rasen. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass ihnen etwas zugestoßen war. Entschlossen ging er einen Schritt zurück und trat dann mit voller Wucht gegen die Tür. Wären die drei zusätzlichen Schlösser, die er eingebaut hatte verriegelt gewesen, wäre die Tür nicht aufgegangen. In seiner Panik bestätigt, trat er schnell ein und lief ins Wohnzimmer. „Mom? Sweta, Katja?" Doch hier waren keine Schwestern, die sich Trickfilme ansahen und keine Mutter vor dem Herd. Schubladen standen offen, Tagesdecken und Kissen lagen herum. Zu ordentlich für eine Plünderung, zu unordentlich für die Anwesenheit seiner Mutter. In den Schlafzimmern sah es genauso aus. Mit einem Gedanken im Hinterkopf und zittrigen Fingern sah er in die Abstellkammer. Die Koffer waren weg. Erleichtert atmete Viktor tief durch. Sie waren wahrscheinlich, nachdem sie am eigenen Leib erfahren hatten, dass es auch ihre Familie Treffen konnte, endlich seiner ständigen Aufforderung gefolgt und hatten die am schlimmsten verseuchte Stadt verlassen. Sie waren irgendwo, wo es sicherer war. Doch gleichzeitig mit der Erleichterung kam auch die Gewissheit, dass er sie nie wieder finden würde. Sie wiederzusehen schien schon seit er entführt wurde unmöglich und doch stand er jetzt hier, in seinem alten Zimmer. Seine Fotos waren von der Wand genommen worden, sein Fußballkissen fehlte, doch ansonsten war es wie immer.
Viktors Mundwinkel zogen sich kurz wieder nach oben. Sie hatten etwas von ihm bei sich haben wollen. Er rieb sich die juckenden Augen. Eine Nachricht mit der Stadt, in die sie gingen, hätte ihm schon gereicht. Im Zimmer seines Bruders musste er grinsen. Typisch. Hat er doch glatt seinen PC mitgenommen, der Idiot.
Monoton, aber schnell, fing er an seine Sachen in eine Tasche zu stopfen. Die Waffen unter seinem Bett waren noch da, wo er sie gelassen hatte. Das Silber war jedoch weg und auch vom Silberwasser fand er keinen einzigen Tropfen mehr. Die Hälfte der anderen Verstecke waren auch leer. Als Letztes packte Viktor etwas zum Anziehen ein und verdrängte jeden Gedanken an die Folgen seiner Taten. Seine Familie war weg. Miranda würde sie nicht finden können. Wenn er zu ihr zurückging, würde Zain über sein Leben entscheiden, aber er wollte diese Entscheidung niemand anderem überlassen.
Viktors Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Finger waren angespannt um die Henkel seiner schwarzen Sporttasche gekrallt, aber solange ihm nichts Besseres einfiel, machte er sich aus dem Staub.
Er sah blinzelnd zum Himmel, die Sonne würde in spätestens zwei Stunden untergehen. Seine alte Joggingroute hatte sich kaum verändert. Gerade als er loslaufen wollte, hörte er eine strenge Stimme hinter sich.
„Viktor Kamarow!"
Abrupt blieb er stehen und drehte sich ungläubig um. Das obligatorische „nein" für den Fall, dass sich jemand an ihm rächen oder Geld eintreiben wollte, hatte es nicht über seine Lippen geschafft.

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Blutbeutel einer Vampirin
VampireAus kontrollierter Ausbeutung wurde unkontrollierte Ausblutung. In nur einer einzigen Nacht, bei einem koordinierten Schlag, gaben sich Vampire der Öffentlichkeit zu erkennen. Angefangen mit der Wandlung eines Rothschilds, endete jedes hohe Amt in d...