Kapitel 26

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Ich bin der dümmste und naivste Mensch auf Erden.

Welche Person, Werwolf oder nicht, die noch halbwegs alle Tassen im Schrank hat, macht mitten in der Nacht in seinem Geburtstagsanzug einen Spaziergang im Wald?

Niemand. Niemand, der mental noch wenigstens ein bisschen anwesend ist, macht sich einfach so, komplett nackt, aus dem Staub. Niemand.

Und dennoch habe ich nichts gesagt, als ich Melissa einfach so habe weglaufen sehen. In einen endlos riesigen Wald, in dem es immer noch von Rogues wimmeln könnte. Einem noch ihrem Alpha nach trauernden Rudel habe ich nichts von dem Verschwinden ihrer Luna gesagt. Trent habe ich nichts von ihrem Verschwinden gesagt.

Ein kleiner, winziger Teil meiner Seele findet Genugtuung in dem Chaos, das am nächsten Morgen ausbricht, nachdem Melissa unauffindbar erscheint. Der andere, überwiegende Teil von mir, fühlt Schuld, tiefe und unübersehbare Schuld. Nicht etwa, weil ich glaube, dass Melissa eine so einfühlsame Person und das Beste, was diesem Rudel jemals passiert ist, ist, sondern weil ich nichts gesagt habe, als sie gegangen ist. Als Trents Mutter, krank von Trauer, geflüchtet ist und sich jetzt nicht wiederfinden lassen will.

Trent gesteht mir, dass er sie nicht durch den Packlink fühlen kann.

Ich sollte entsetzt sein, erschüttert sogar, aber ich kann mich nur auf das furchtbare Gefühl in meiner Magengrube konzentrieren. Furcht, Panik und schwere Zweifel nagen an mir, wirbeln in mir umher, verschwimmen hinter meinen Augen und bringen meine Knie zum Zittern.

Ich hätte das verhindern können.

Ich hätte schon gestern Abend Bescheid geben können und vielleicht wären dann alle Wölfe, die sich in den frühen Morgenstunden auf die Suche nach Melissa begeben haben, nicht ganz so hoffnungslos.

Vielleicht wären Trents Augen dann nicht ganz so schwarz, als sie erschöpft und zugleich entschlossen zwischen den Suchtruppen hin und her gleiten. Er gibt ihnen Anweisungen. Seine Stimme klingt tief und ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand hier es wagen würde, seine Autorität zu hinterfragen.

Genauso wenig, wie ich es wagen würde, auszusprechen, was nicht aufhört, mir immer wieder durch den Kopf zu schießen.

Wenn Melissa noch hier wäre, dann würde Trent immer noch in seinem Zimmer liegen und sich keinen Zentimeter rühren, geplagt von Reue, Trauer und Schuld.
Wenn Melissa noch hier wäre, hätte Trent nicht begonnen, seinen Pflichten als Alpha nachzugehen.

Also ja, ich bin Schuld, aber gleichzeitig bin ich erleichtert, dass Trent es geschafft hat, sich aufzuraffen und Taten sprechen zu lassen, anstatt in seinem eigenen Elend zu vergehen.

Ich beobachte wie seine Hauptschlagader leicht zu pulsieren beginnt, als er mit Jared angeregt zu diskutieren scheint. Meine Augen verlassen sein Gesicht nicht für eine Sekunde, während ich mir eine Flasche Wasser aus dem Cooler nehme und mich durch eine Menge von Werwölfen zu ihm durchschlage.

Wortlos halte ich ihm seine Erfrischung hin und er nimmt sie mir dankbar ab. In einem Zug leert er die Flasche und drückt sie mir wieder in die Hand. Er führt seine Unterhaltung unbeirrt fort, aber mit zwei Finger fährt er mir über den Nacken und zieht mich in seine Seite.

Mit halbem Ohr höre ich zu, wie er und Jared einen Plan entwickeln, um möglichst viel Waldgebiet in möglichst kurzer Zeit abzusuchen. Je länger ich an Trents Seite stehe, desto schwerer wird der Zementblock in meinem Magen. Er ist verzweifelt. Und es ist meine Schuld.

Ich kriege nicht viel von dem Inhalt ihrer Konversation mit, zu beschäftigt damit, mir meine Unruhe nicht anmerken zu lassen. Ich realisiere nicht einmal, wie Jared und Megan anfangen, die Suchtruppen neu einzuteilen, bis Trent sich vor mich stellt und meine Gesicht in seine Hände nimmt.

The Alpha's MateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt