11| Einladung.

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Nach dem Beinahe-Unfall von vorhin ging ich einfach stumm nach Hause.
Ich begriff nicht, was mit mir los war. So unvorsichtig war ich sonst nicht.
Hatte Taeyhung jetzt schon so einen großen Einfluss auf mich?

Gott, jetzt hör auf über diesen Mistkerl nachzudenken. Das ist ja nicht mehr zu ertragen.

Schnell zog ich die Kopfhörer aus meiner Jackentasche, steckte sie mir in die Ohren und ließ volle pulle Musik laufen, damit mein Gehirn endlich mal Ruhe gab.

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Nachdem ich die Haustür geöffnet hatte, schlurfte ich antriebslos das Treppenhaus hoch in den dritten Stock, in dem meine und die Wohnung von Mrs. Min und ihren Söhnen lag. Wieso fühlte ich mich schon wieder so, als hätte eine Horde Elefanten auf mir herum getrampelt?
Erschöpft zog ich meine Kopfhörer aus den Ohren und schob sie in meine Tasche.
Ich schloss meine Wohnungstür auf und ging hinein.

Mit dem ersten Schritt in meine Wohnung knitterte etwas unter meinen Füßen.
Ich schaute verwundert hinunter zu der Quelle des Geräusches und sah einen geknickten Zettel unter meinem rechten Fuß liegen, der wohl unter meiner Tür durchgeschoben worden war.
Ich zog den Schlüssel aus dem Schloss und bückte mich nach dem Zettel, um ihn aufzuheben.
Nachdem ich die Tür geschlossen und meine Sachen an die Garderobe gehangen hatte, ging ich Richtung Küche, um mir etwas zu essen zu machen, wobei ich den Zettel neugierig entfaltete, mich auf den schwarzen Holzstuhl in der Küche setzte und die geschriebenen Worte leise vorlas.

Hallo Jungkook.
Ich wollte mich für meinen nächtlichen Besuch heute Nacht entschuldigen. Ich wollte nicht in deine Privatsphäre eindringen, aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht.
Ich möchte, dass du zu uns kommst, wenn dich etwas bedrückt. Ich weiß, wir sind nur deine Nachbarn, aber scheu dich nicht vorbei zu kommen.
Ich möchte dich außerdem zum Mittagessen einladen. Komm nach der Schule rüber.
Keine Widerrede.
Das Essen ist schon fertig gekocht, wenn du das hier liest und du möchtest nicht wissen, was ich tue, wenn ich deine Portion Ramen wegwerfen muss, wenn du nicht kommst.

Bei dem letzten Satz musste ich grinsen. Sie versuchte streng rüber zu kommen, aber dafür war sie viel zu liebenswürdig und nett. Außerdem meinte sie das nicht so ernst, wie sie es schrieb. Sie wollte nur sichergehen, dass ich auch wirklich kam. Einen Namen bauchte Mrs. Min auch nicht unter den kleinen Brief schreiben, denn ich wusste sofort nach dem ersten Satz, wer diese Zeilen geschrieben hatte.
Ich seufzte tief.

Ich wollte wirklich nicht rüber gehen, aber sie hatte Recht. Es wäre Verschwendung, wenn sie die Ramen wegwerfen würde.
Und ich hatte einen Bärenhunger.
Zudem hatte ich ewig keine selbst gemachten Ramen mehr gegessen.
Wie auf Kommando knurrte bei der Vorstellung von leckeren Ramen mein Magen.
Außerdem würde es unhöflich rüber kommen, wenn ich ihrer Bitte nicht folge leistete.

Was soll's.

Ich gab mir einen Ruck, legte den Zettel auf den Küchentisch und wollte mir noch schnell frische, angemessene Sachen anziehen.
Also ging ich in mein Zimmer, schob die riesigen Schranktüren auf und kramte aus meinem Kleiderschrank ein paar Anziehsachen heraus, die ordentlich aussahen und zog sie an.
Meine getragenen Sachen schmiss ich in den Wäschekorb im Bad und kämmte mir noch schnell einmal durch die Haare.
Ich ging wieder in mein Zimmer und musterte mich kritisch im Spiegel meines Kleiderschrankes.
Die sakkoähnliche blaue Jacke, die ich anhatte, stammte noch aus der Zeit in Seoul.
Aus meinem alten Leben.
Mit meinen alten Freunden und meinem alten Zuhause.

Bei dem Wort 'Zuhause' entfuhr mir ein bitteres Lachen.
Das war kein zuhause gewesen.
Wir hatten zwar alles an materiellen Dingen, die man sich vorstellen konnte, die beste Kleidung, ein riesen Haus mit unendlich viel Platz und allem möglichen unnötigen Scheiß, weil mein Erzeuger ein hohes Tier und Mitglied der Geschäftsführung einer Immobilienfirma war, aber an wirklich wichtigen Dingen fehlte uns alles.
Zuneigung. Wertschätzung. Freundlichkeit. Spaß. Gemeinsame Familienabende. Liebe.
Nichts davon existierte bei uns.

Trotzdem war ich jetzt froh, dass ich meine alten Klamotten alle noch hatte, wenn ich schon eingeladen wurde, sollte ich auch ordentliche Sachen tragen.
Alles andere wäre respektlos.
Unter die etwas schickere Jacke hatte ich jedoch ein eher lockeres weißes Tshirt mit dunkelblauem Aufdruck angezogen, damit ich nicht zu overdressed aussah.
Ich war soweit zufrieden mit meinem Outfit, also schnappte ich mir meinen Wohnungsschlüssel, zog mir schlichte, dunkelblaue Schuhe an
und ging mit klopfendem Herzen aus meiner Wohnungstür hinaus.

Da stand ich nun vor der Tür meiner Nachbarin und umklammerte meinen Wohnungsschlüssel.
Mit der anderen Hand fummelte ich hilflos an einem Knopf der Jacke herum. Ich war sichtlich nervös und knabberte an meiner Unterlippe.
Ich war ewig nicht mehr zum Essen eingeladen gewesen.
Es hatte ewig keiner mehr Ramen für mich gekocht.
Ich wusste nicht genau wie ich damit umgehen sollte.
Und was wäre, wenn sie mich auf gestern Nacht anspricht? Auf die Verletzungen auf meinem Bauch oder noch schlimmer, auf den Schrei und die Alpträume.. das würde kein gutes Ende nehmen.
Grade als ich es mir anders überlegen und zurück in meine Wohnung gehen wollte, wurde die Tür von innen geöffnet und ein warmes Lächeln von Mrs. Min empfing mich.
„Da bist du ja. Ich wollte grade rüber kommen und schimpfen, wo du bleibst. Das Essen ist fertig."
Ich stand nur unbeholfen auf der Willkommens-Fußmatte, die sie vor der Tür liegen hatte und lächelte unsicher.
Ich fühlte mich irgendwie unwohl.
Aber jetzt gab es kein zurück mehr.
„Na komm schon, Jungkook.", sagte Mrs. Min, berührte behutsam meine Schulter und zog mich dann an meinem Arm in die Wohnung hinein.
Hinter mir hörte ich die Tür ins Schloss fallen.

Your love is killing me. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt