16| Spatziergang

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Diese blöde Nachricht raubte mir noch den letzten Nerv.
Nachdem ich sie gelesen hatte, löschte ich den Chat sofort, meldete mich auf Instagram ab und warf mein Handy aufs Bett, wo ich es den Rest des Tages liegen ließ und nicht mehr wagte es auch nur zu berühren.
Mein Puls hämmerte mir auf Hochturen gegen die Stirn und ich lief in der Wohnung auf und ab.
Wenn ich noch länger hier auf und ab ging, würde ich noch Löcher in den Teppich laufen.
Und wenn ich noch länger in dieser Wohnung blieb, die mich im Moment zu erdrücken schien, würde ich komplett durchdrehen.
Ich schnappte mir kurzerhand Jacke und Schuhe, steckte den Hausschlüssel in die Jackentasche und lief hastig, mit knallenden Türen, aus dem Mehrfamilienhaus hinaus.

„He, Jungkook!", rief plötzlich jemand hinter mir her, kaum als ich das Haus verlassen hatte. „Warte mal!"
Ich drehte mich erschrocken um, erkannte aber im selben Moment Yoongi, der lässig aus entgegengesetzter Richtung auf mich zugelaufen kam. Er trug ein weißes Shirt mit schwarzen Hosenträgern und einer dunklen Hose. Darüber eine schwarze Bomberjacke. Der Junge hatte echt Stil, das musste ich zugeben.
„Oh Hi Yoongi. Hab dich gar nicht gesehen", murmelte ich.
„Kein Ding. Wo willst'n hin?"
„Eigentlich nirgendwo hin, einfach raus.", gestand ich mit etwas mürrischem Unterton.
„Lust auf ne Runde Basketball auf dem Spieka?", hörte ich Yoongis etwas eintönige, aber meiner Meinung nach sehr angenehme, Stimme.
„Basketball hört sich gut an, wusste gar nicht, dass du spielst. Aber wer oder was ist ein Spieka?" fragte ich ihn und hob eine Augenbraue.
Yoongi verdrehte gespielt genervt die Augen.
„Man, du wohnst seit fast nem Jahr hier und kennst den Spieka noch nicht?!"
Mir blieb nichts anderes übrig als den Kopf zu schütteln.
„Dann komm." Yoongi machte eine Armbewegung, die mir deutete ihm zu folgen.

Auf dem Weg zu diesem „Spieka" - Yoongi hatte mir leider immer noch nicht erklärt, wer oder was es war - gingen wir still nebeneinander her. Aber es war keine unangenehme Stille, die manchmal aufkommt und schnell peinlich werden kann.
Nein, es war eine angenehme Stille.
Bei uns war es einfach so, wir mussten nicht viel reden und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass Yoongi und ich gut miteinander auskamen. Bei ihm hatte ich nicht das Gefühl, ich müsste mich verstellen oder verstecken.
Ich hatte das Gefühl, ich müsste ihn nicht sofort von mir stoßen, weil er mir zu nah kommen würde.
Mir kam ein merkwürdiger Gedanke.
Vielleicht könnte ich in Yoongi wirklich so etwas wie einen Kumpel gefunden haben.. auch, wenn ich heute zum ersten Mal richtig Zeit mit ihm verbrachte..

Eine angenehme Windböhe riss mich aus meinen Gedanken und wirbelte mir durch die Haare.
Ich genoss dieses Gefühl, denn die Temperaturen und die zarte Frühlingsluft bedeutete, dass der Sommer sich langsam ankündigte - ich liebte den Sommer.
Ich atmete die lauwarme Frühlingsluft tief ein und beobachtete meine Umgebung.
Die zarten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg zwischen den grün werdenden Baumkronen hindurch und es roch nach Frühling. Die Bäume hinterließen verrückte Schattenspiele auf dem Gehweg und der Himmel war tiefblau mit ein paar Schäfchenwolken bestückt.
Auch auf Yoongi tanzten die Schatten abwechselnd mit den Sonnenstrahlen, die ein Schlupfloch zwischen den Blätterdächern gefunden hatten.
Er hatte die Hände in seine Hosentaschen gesteckt und schlenderte lässig neben mir her.
Auch er schien das Wetter zu genießen.

Grade gingen wir an unserer Schule entlang, als Yoongi nun doch ein Gespräch anfing.
„Ich hab gehört, du musst ab nächster Woche Extraarbeiten machen?" Gleichzeitig stieß er mich spielerisch mit dem Ellenbogen in die Seite.
Ich sah ihn an und erkannte, dass er sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen konnte.
Ich wusste nicht, dass dieser Kerl überhaupt zu richtiger Gesichtsmimik fähig war.
Auch ich musste schmunzeln.
„Gott, erinnere mich nicht daran.. Aber woher weißt du das überhaupt?"
„Ach, Mom kennt die Sekretärin vom Direktor."
Ich nickte verstehend.
Was hält Mrs. Min jetzt von mir? Das war mir jetzt irgendwie unangenehm.
Was hatte die Marshmallow-Plaudertasche von Sekretärin ihr noch alles erzählt?
Wie oft ich in letzter Zeit zu spät zum Unterricht kam?
Wie oft ich wegen irgendwelchem Mist Nachsitzen musste?
Nachdenklich sah ich zu Boden.
Während wir nebeneinander hergingen, klaubte ich einen kleinen Kieselstein mit dem rechten Fuß vom Boden auf und kickte ihn gedankenverloren vor mir her.
Was ist, wenn Mrs. Min mich nun nicht mehr leiden konnte?
Unerklärlicherweise war es mir bei ihr sehr wichtig, was sie von mir hielt.

Es war, als hätte Yoongi gespürt, was gerade in mir vorging.
Er lehnte sich, während wir uns von der Schule entfernten und weiter durch die Wohngegend gingen, etwas zu mir rüber, klopfte mir lässig mit der rechten Hand auf die Schulter und lächelte mir aufmunternd zu.
Es war eine kleine Geste, jedoch löste sie bei mir aus, dass sich meine Laune direkt verbesserte.
„Keine Sorge, Kooks. Weißt du wie oft ich schon Nachsitzen musste und irgend ne scheiße angestellt habe? Oder wie oft sie schon zur Schule zitiert wurde wegen mir oder meines Bruders? Das ist meine Mom mehr als gewöhnt."
Ich schaute ihn von der Seite an. Ich war kurz etwas geschockt, wie präzise Yoongi Gefühle deuten konnte und mich ohne Worte verstand, auch wenn ich immer versuchte mein Inneres vor anderen zu verbergen. Sein Blick war auf dem Gehweg vor ihm gerichtet aber ich konnte ein Grinsen in seinem Gesicht erkennen. Unwillkürlich schlich auch über meine Lippen ein Grinsen.
Er hatte mich Kooks genannt. Auch, wenn ich Spitznamen hasste, ich ließ es zu.

„Na dann erzähl mal. Was hast du angestellt, dass der Drachen von Direktor nun schon Extraarbeiten verteilt?", fügte Yoongi noch hinzu, bevor wir um die nächste Ecke bogen und in eine Art kleines Waldstück liefen.
Die Wege waren nicht mehr asphaltiert, sondern erdig. An einigen Stellen war Rindenmulch als Wegmarkierung verteilt worden. Die Bäume ragten hoch über uns auf, sodass man meinte, man wäre schon die ganze Zeit durch einen Wald und nicht durch ein Wohngebiet gelaufen. Ich hatte diesen Ort zuvor noch nicht gesehen, obwohl er quasi einen Steinwurf von meiner Haustür entfernt lag.
Einige Sonnenstrahlen, die durch das dichte Blätterdach brachen, hinterließen hier und da einige helle Flecken auf dem Waldboden.
Die Luft war direkt frischer, ohne den Geruch von Motoröl oder Abgasen. Sie war erfüllt von holzigen, moosigen Düften.
Die verschiedenen Grüntöne zeigten sich in ihrer vollen Pracht und Gras blühte zwischen den Bäumen.

Yoongi schlenderte weiter neben mir her und blickte mich erwartungsvoll an.
„Eigentlich bin ich nur zu spät gekommen. Nichts spektakuläres."
„Dann hatte der Drachen wohl einen schlechten Tag", erwiderte Yoongi.
„Naja, war halt auch nicht das erste Mal, dass ich zu spät kam. Aber gibt wirklich Schlimmeres, was man anstellen kann."
Bei dem letzten Satz musste ich schmunzeln, als ich ihn aussprach. Die Erinnerungen an den ein oder anderen Streich kamen wieder hoch.
„Nun erzähl schon. Was hast du hier schon so angestellt?" Yoongi schaute mich gespannt an. Wieder umspielte ein leichtes schelmisches Grinsen seine Mundwinkel.
„Weißt du noch, als alle das Schulgebäude verlassen mussten, weil der Feueralarm ausgelöst wurde?", begann ich zu erzählen.
Yoongi blieb abrupt stehen und fing an zu lachen. Auch mich steckte er mit seinem herzlichen Lachen an, auch wenn ich mich etwas wunderte, dass aus einem nach außen lässig wirkenden und eher zurückhaltenden Typen ein solches Lachen herauskommen konnte.
„Und alle Klassenzimmer und Schulgänge unter Wasser gesetzt wurden?", brachte er unter weiterem Gelächter hervor.
Ich konnte nur „Jepp." antworten, weil wir kurz darauf erneut in schallendes Gelächter ausbrachen.
„Wie geil. Niemand wusste wer den Feueralarm ausgelöst hatte. Ich hab mich schon immer gefragt welcher Held das gebracht hat. Der Unterricht der nächsten 2 Tage fiel ja auch aus, weil die Gänge und Klassenräume wieder trocken gemacht werden mussten. Das war die beste Schulwoche", berichtete Yoongi, nachdem er sich halbwegs wieder eingekriegt hatte.
„Ja ich weiß. Der Direktor wollte nicht, dass jemand mitbekommt, wer es war. Ich musste einen ganzen Monat alle Mülleimer der Schule leeren und die Räume fegen, um die Rechnung abzustottern. Aber das war es wert."
„Definitiv! Haha." stimmte mir Yoongi zu und hielt sich erneut den Bauch vor Lachen. „Oh man, Jungkook", begann Yoongi, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Du hättest letztes Jahr dabei sein müssen, als wir eine Wasserschlacht in der Schule angezettelt haben. Das war auch so genial. Danach war alles auch unter Wasser gesetzt. Am nächsten Tag warn Aufräumarbeiten statt Unterricht angesagt. Wir kassierten alle einen Verweis und unsere Eltern wurden zum Direktor zitiert, weil auch er von den Wasserbomben getroffen und klitschnass wurde. Das hättest du sehen müssen. Er sah aus wie ein begossener Pudel. Haha.."
Auch ich stimmte in das Gelächter mit ein. Die Vorstellung von unserem mächtigen Direktor nass bis auf die Unterhose war einfach zu witzig. Das Laufen fiel uns durch das ganze Lachen schwer und mir lief schon eine Lachträne die Wange hinunter, als wir uns langsam wieder beruhigten. Ich hatte sehr lange schon nicht mehr so unbekümmert gelacht.
„Ja da wäre ich wirklich zu gern bei gewesen" stimmte ich Yoongi noch zu, ehe wir um die nächste Ecke um einen riesigen umgefallenen Baum herum liefen und sich der Wald etwas lichtete. Langsam müssten wir mal an diesem komischen Spieka ankommen.
„Wir sind gleich da", bestätigte Yoongi meine Vermutung.
„Was ist dieser Spieka denn nun?" Langsam wurde ich etwas ungeduldig. Aber Yoongi zuckte nur mit den Schultern.
„Wirst du schon sehen", war alles, was er dazu noch sagte.

Your love is killing me. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt