Kapitel 4

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Die Krankenschwester kam herein um meine Wunden zu versorgen. Ich war bereits seit vier Tagen in diesem Zimmer. Das Personal kam immer zu Zweit ins Zimmer, sodass immer jemand im Notfall eingreifen könnte. Falls ich mal ausrasten sollte.
Doch diese Schmerzen, die Luca mich hatte spüren lassen, waren einfach zu viel. Ich konnte es nicht riskieren, es erneut zu spüren.
Die Tage vergingen langsamer als man es sich vorstellen konnte. Mit jedem neuen Sonnenaufgang schwand meine Widerstandsfähigkeit, meine Kraft, meine Hoffnung, hier jemals wieder rauszukommen.
Luca war seit Tagen nicht mehr hergekommen und ich war in einen katatonischen Zustand gefallen. Ich bewegte mich kaum, sprach mit niemandem und mein Blick ging immer in Richtung Fenster ins Leere. Ich sah die schönen Bäume, doch ich nahm sie nicht wahr.
Vor meinem inneren Auge aber, da ließ ich einen Film in Dauerschleife laufen.
Ich sah meine Kindheit.
Die schönen Zeiten, als mein Vater mir Fahrrad fahren beigebracht hat. Als er mit mir das große Puppenhaus aufgebaut hat. Das Kartenspielen, bei dem mein Vater mir schon früh erklärte, das Verlieren unangebracht sei. Und da begannen die schlechten Erinnerungen. Die das innere Kind in mir zum weinen brachten. Die auch mich zum schreien, wüten und toben bringen würden, wenn ich mich bewegen könnte und nicht in dieser Katatonie gefesselt wäre.
Ich sah, wie mein Vater mich nach einer Partie Rommé, bei der ich einen Fehler machte, sodass er gewinnen konnte, schlug. Es war das erste Mal das wir Rommé gespielt hatten. Und ich war 7 Jahre alt gewesen. Doch für meinen Vater war mein Alter nie eine Entschuldigung gewesen.
Ich erinnerte mich wie die Lektionen weitergingen. Das Training wie er es nannte. Wenn 5 erwachsene Männer auf mich einschlugen und ich versuchen sollte gegen sie anzukommen. Die blauen Flecken an meinem Körper. Die aufgeplatzten Lippen in meinem Gesicht. Ich hatte nie eine wirkliche Chance. Und genau darum ging es meinem Vater nämlich. Er wollte nicht, dass ich als Gewinnerin aus diesen Kämpfen herausging. Es ging ihm einzig und allein darum, dass ich verlieren lernte. Das mich die Schläge und Tritte abhärten würden.

Doch trotz alle dem liebte ich meinen Vater. Aus ganzem Herzen. Er war doch alles was ich hatte. Ich hatte auch keinen Zweifel an seiner Liebe mir gegenüber. Auch wenn er es mir nie zeigte.
Sein Blick, als er nach dem abschließendem Training zu mir kam, nachdem ich trotz all der Folter kein Sterbenswörtchen über ihn verraten hatte. Dieser von Stolz erfüllte Blick. Das war es, was ich immer wieder versuchte zu erhalten. Seine Anerkennung. Das war ein kleiner Funken als Beweis seiner Liebe.
Auch ich war wie viele andere Mädchen ein absolutes Papakind gewesen. Nun ja, ich hatte, ja, schließlich keine Mutter mehr.
Ich vergötterte meinen Vater immer, obwohl er so war, wie er nun mal war.
Ich bekam im Jahr ganze drei Umarmungen. Zu meinem Geburtstag, zu seinem Geburtstag und zu Weihnachten. Von Herzlichkeit und Zuneigung keine Spur. Es war lediglich eine kurze feste Umarmung, nicht liebevoll. Nein, die Liebe von meinem Vater stellte sich in seinen Geschenken dar. Und darin was er mir alles ermöglichte. Vor einigen Jahren hatte er einmal in einem seiner schwachen Momente, als er nach einem Herzinfarkt im Krankenhausbett lag, meine Hand genommen und mir einen Kuss gegeben. Er hatte mir damals gesagt, dass er oft zu streng mit mir war, aber Liebe sei Schwäche und die konnte er sich in seiner Situation nun mal nicht leisten. „Und wenn du wirklich mal meinen Platz einnehmen willst, dann kannst du sie dir auch nicht leisten!", hatte er damals gesagt. „Du darfst auch mich nicht lieben. Geh' nach Hause, kümmere dich um deine Angelegenheiten und lass mich meinen Kampf alleine durchstehen. Wenn ich deine Hilfe benötigen würde, hätte ich es dich schon wissen lassen. Geh!"
Ich hatte seinen Anweisungen immer sofort Folge geleistet und so stand ich auch damals auf ohne mich noch einmal nach ihm Umzublicken und ging. Doch kaum war ich zu Hause, schloss ich mich in meinem Zimmer ein, kramte die kleine Schachtel mit den Fotos meiner Mutter heraus und weinte.
In diesem Moment hasste ich mein Leben. All die Luxusartikel um mich herum, mein Zimmer, das Haus, die Limousine vor der Tür, die Angestellten. Einfach alles. Ich wollte einfach nur eine ganz normale junge Frau sein. Die ihre Eltern um sich herum hatte und geliebt wurde. So richtig. Mit allem was dazu gehörte. Umarmungen. Küsse. Worte der Zuneigung. Warum musste ich genau in dieses Leben hineingeboren werden?
Ich wollte doch nur normal sein.
Doch dieser Wunsch würde mir wohl für immer verwehrt werden.

*

„Hey, mein Baby!" Ich hörte seine Worte und sah das Luca vor mir an meinem Bett stand. Ich musste ihm direkt ins Gesicht geschaut haben, schließlich hatte er sich unmittelbar vor mich gestellt. Davon hatte ich allerdings nichts mitbekommen. Mein innerer Film war einfach zu fesselnd. Auch jetzt, da ich ihn sah, reagierte ich nicht. Ich konnte nicht.
„Ich werde heute deine Wunden verarzten, wenn du mich lässt. Wenn du es nicht willst, dann sag es einfach. Ich werde dich zu nichts zwingen. Ich gehe wieder und lasse die Schwester kommen. Du musst es nur sagen, Baby." Seine Worte klangen so liebevoll. So sanft. Doch mir war bewusst, dass er nur versuchen wollte, mich aus diesem abwesenden Zustand herauszulocken. Er erhoffte sich Worte der Ablehnung von mir zu bekommen, sobald er mich anfasste, um mich so aus meinem Gefängnis zu holen. Zurück in die schwere Realität. Doch selbst wenn ich es wirklich gewollt hätte, wahrzunehmen, zu sprechen, zu reagieren, ging es einfach nicht. Stattdessen ihm tief in seine glänzenden Augen zu sehen, blickte ich stur aus dem Fenster zu den leuchtend grünen Blättern an den Baumkronen.
Ich spürte, wie mir die Decke vom Körper genommen wurde. Danach wie seine Hände meine nackte Haut streiften. Die langgliedrigen Finger strichen sanft über meiner Haut als er das Pflaster von meinen Beinen nahm. Dort hatten mich die Peitschenhiebe immer wieder getroffen und sich in meine Haut geschnitten. Was von den ursprünglich tiefen Schnitten noch übrig war, konnte ich nicht wissen. Seit über einer Woche hatte ich meine Wunden nicht mehr gesehen. So viel Zeit musste wohl vergangen sein, seit die Krankenschwester mir letzte Mal die Wunde gezeigt hatte. Vielleicht kam es mir aber auch nur so vor.
Ich spürte das kalte Desinfektionsmittel an meinem Bein herunterlaufen. Aus Reflex zuckte ich zurück, als Luca mir den feuchten Wattetupfer auf die Wunde drückte.
„Ganz ruhig, Baby! Ich bin ganz sanft zu dir." Mit einem festen, aber nicht schmerzenden Griff um mein Sprunggelenk hielt er mein Bein mit einer Hand fest. Seine Finger waren weich und warm. Wäre ich nicht in diesem Käfig der Teilnahmslosigkeit gefangen, hätte ich sehr wahrscheinlich die zarten Bewegungen gespürt, mit denen er mich zu beruhigen versuchte. Ich hätte seinen mitleidigen Blick gesehen. Ich hätte die elektrisierende Spannung zwischen uns gespürt.
Doch ich war mit mir selbst beschäftigt. Ich konnte meinen Blick von den Bäumen einfach nicht lösen. War dies die allgemein bekannte „Post-Traumatische-Belastungsstörung"?

Ich konnte mich selbst dann nicht regen, als Luca die Decke wieder zuschlug, aufstand und mir einen Kuss auf die Stirn gab.
Lediglich seine Worte erreichten mich tief in meinem Unterbewusstsein, obwohl sie keinen Sinn ergaben: „Ich hätte dich damals schon befreien sollen, Rory. Es tut mir so leid!"

Seine TochterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt