Kapitel 8

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Luca rollte mich in dem Rollstuhl auf die Terasse hinaus. Die Luft hier draußen war so wunderbar frisch. Wenn Luca es mir nicht gesagt hätte, wäre ich niemals darauf gekommen, dass wir hier unter dem Meer waren. Und all das nur durch Leinwandprojektion und Luftfilteranlagen arrangiert wurde.
„Das ist Patrizio. Dein Physiotherapeut. Er hilft dir wieder auf die Beine zukommen. Ich will dich endlich wieder in dem kämpferischen Zustand haben, wie ich dich kennengelernt habe. Er kümmert sich um dich.", stellte mir Luca den dunkelhaarigen, braungebrannten Mann in einem dunkelblauen Trainingsanzug vor.
„Sie kommen mir bekannt vor. Sie haben mich doch im Santa Lucia Hospital versorgt!", entfuhr es mir als ich dem Mann näher kam. Ich kannte ihn, da war ich mir sicher. Diese eisblauen Augen würde ich mein Leben lang nicht vergessen. „In diesem Hospital habe ich nie gearbeitet. Sie müssen mich verwechseln.", er starrte verwirrt zu Luca. „Doch, ich bin mir ganz sicher. Ich hatte damals eine Blinddarmentzündung und hatte auf dem Weg ins Krankenhaus einen Unfall. Genau genommen kann ich mich an nichts mehr wirklich erinnern. Nach der lebensrettenden OP war ich ins Koma gefallen. Aber ich würde niemals diese Augen vergessen. Sie waren das erste was ich erblickte, als ich wach wurde. Sie müssen sich doch an mich erinnern." Er half mir dabei aus dem Rollstuhl auf die ausgebreitete Yogamatte zu steigen und begann direkt mit kleinen Übungen an den Füßen. „Wie gesagt ich war nie am San Raffaelle Hospital tätig." Luca hüstelte laut und ich korrigierte Patrizio: „Das Santa Lucia Hospital. Das in Amantea an der Küste. Sie müssen sich doch an mich erinnern. Es wurde eine ganze Etage gesperrt und.." - „Und jetzt reicht's!", donnerte Luca plötzlich. „Lass den Mann seine Arbeit machen und nerv' ihn nicht mit deinem blöden Gebrabbel. Ich verbiete dir, weiterhin mit ihm zu reden!" Ich lachte laut auf. „Du? Mir etwas verbieten? Was willst du denn tun? Mir den Mund zukleben?"
Ich lachte noch lauter auf. Natürlich war der einzige Zweck dahinter, Luca zu provozieren. Was fiel ihm ein mich so zu behandeln? So mit mir zu reden?
Augenblicklich verkrampfte sich mein ganzer Körper. Hitze stieg mir in meinem Kopf. Mir wurde übel. Dieser Schmerz. Tränen schossen mir in die Augen. Ich versuchte mich auf den Ursprung des Schmerzes zu konzentrieren. Aber ich konnte nicht. Es fühlte sich an, als würden mir die Eingeweide rausgerissen werden und ich krümmte mich. Ich musste dagelegen haben wie ein Embryo in der zu engen Fruchtblase. Zusammengekauert. So verletzlich. Und klein.
„Du solltest nicht vergessen, dass ich dich in der Hand habe. Ich habe dir gesagt, du sollst leise sein und die Übungen mit ihm machen."
Luca setzte sich auf einen der  Loungesessel auf der Terrasse und nippte an einer Flasche Wasser.
Ich drehte mich zu den wild wachsenden Bäumen und Büschen im Garten und versuchte so gut es ging mich zu beruhigen.
Patrizio der junge Therapeut war kreidebleich geworden. Er stotterte vor sich her als er mir die Übungen erklärte und vormachte. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen, befolgte ich all seine Anweisungen.
Es hatte so gut angefangen. Ich hatte tatsächlich geglaubt, Luca wäre nicht nur der eiskalte, rachsüchtige Mafiaboss. Hatte tatsächlich geglaubt er könnte Gefühle für mich haben. Doch wer würde jemanden den er gern hat, wie er es immer formulierte ‚der Liebe seines Lebens', so etwas antun? Wer würde überhaupt jemandem, der es nicht absolut verdient hätte, solche Schmerzen zufügen?
Doch etwas Gutes hatten die Schmerzen schon gehabt. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund war mir der Name auf dem Schild wieder eingefallen.

*

Ich saß zum ersten Mal mit  Luca am Tisch. Seine Haushälterin, Magdalena hatte uns eine kräftige Tomatensuppe gekocht. Dazu gab es hausgemachtes Focaccia mit getrockneten Oliven und Tomaten. Das Brot glänzte so schön. Und so gut wie es aussah schmeckte es auch. Wie jeden Tag gab es drei Gänge. Diese Frau war ihr Geld echt wert. Ihr Essen weckte in mir wohlige Gefühle und Erinnerungen voller Freude. 
Es waren zwei Tage seit dem ersten Training mit Patrizio vergangen und ich hatte immer noch kein Wort gesprochen. Luca hatte häufig versucht ein Gespräch mit mir anzufangen, doch ich ignorierte ihn. Jedes Mal hatte er mich als kindisch bezeichnet und stur, aber ich konnte ihm diesen Schmerz nicht verzeihen.
„Du wirst schon wieder mit mir reden.", hatte er am Abend zuvor zu mir gesagt, bevor er das Licht gelöscht hatte und aus dem Zimmer gegangen war.
Ich hatte mich nur umgedreht und mich in den Schlaf geweint. Seit meiner Kindheit hatte ich nicht mehr so viel und so oft geweint. Luca musste es mir an meinen Augen angesehen haben, doch er sagte nichts dazu. Es schien ihm egal zu sein.
„Patrizio wird gleich nach dem Essen schon weiter mit dir üben. Ich hab einen Geschäftstermin, werde also nicht auf dich aufpassen können. Aber ich habe ihn mit allem, was er benötigen könnte ausgestattet. Du solltest also keinen Mist machen!", warnte er mich als Magdalena uns ein Schichtdessert mit Naturjoghurt, ein paar Keksbröseln und verschiedenen frischen Beeren brachte. Ihr Essen war einfach und dennoch so köstlich. Wie gewohnt reagierte ich nicht auf Luca, sondern starrte lediglich auf die große Terrasse.
„Aurora es kann nicht immer so weitergehen. Irgendwann wirst du mich wieder beachten müssen." bemerkte er mit besorgter Miene. Ich hingegen zuckte nur mit den Schultern.
Luca schnaubte und löffelte das Glas leer. Er bedankte sich bei Magda und gab mir zum Abschied einen Kuss auf den Hinterkopf.
„Bis später, Baby!", hauchte er als er zur Tür hinausging.
Magda räumte den Tisch ab und ich ging auf Krücken hinaus auf die Terrasse um auf Patrizio zu warten. Er verspätete sich auch heute nicht und so begangen wir zügig mit dem Training.

*

„Emilia. Wo ist Emilia? Ich will sofort zu ihr!", schrie ich die Menschen in ihrer weißen Arbeitskleidung an. Sie standen allesamt mit Klemmbrettern vor mir, beobachteten mich und machten sich irgendwelche Notizen. Sie starrten mich alle an, doch keiner schien mich zu beachten. Als sei ich in einem Glaskasten gefangen. Nein, ich war tatsächlich in einem Glaskasten gefangen. Ich konnte sie nicht hören und sie mich auch nicht. Ich schmiss alles durch die Gegend, was mir in die Finger kam. Sie sollten mich endlich aus dieser Hille befreien und mich hier raus lassen. Ich musste sofort zu Emilia. Dieses kleine Wesen es braucht mich.

Ich schreckte schon wieder aus diesem immer wiederkehrendem Alptraum hoch. Gerne hätte ich mich mit meinem ehemaligen Psychologieprofessor damit auseinander gesetzt, was mir mein Unterbewusstsein mit diesem Traum sagen wollte.
Aber wahrscheinlich war es nur eine Projektion meiner täglichen Erlebnisse in diesem tropischen Gefängnis. Mit jedem Tag der verging, gefiel es mir besser hier. Schöner wäre es zwar mit Daddy und in Freiheit gewesen. Doch nun ja, man kann sich sein Schicksal nun mal nicht aussuchen. In Gedanken immer noch beim Traum stand ich aus dem Bett auf und ging zur Küche. Dort angekommen holte ich mir eine Dose Limo aus dem Kühlschrank und setzte mich auf die unterste Treppenstufe, die von der Terrasse hinabging.
Ich ließ meinen Blick über die künstlich angelegte Natur schweifen. Luca hatte wirklich alle Arbeit geleistet. Niemals, nicht in 1000 Jahren wäre ich auf die Idee gekommen, hier sei irgendetwas nicht tatsächlich echte Natur.
Kaum dachte ich an ihn, bildete ich mir auch schon ein Stimmen zu hören. Seine tiefe und warme Stimme. Die ich so sehr hasste und doch immer wieder an sie denken musste.
Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen.

„Dr. Deli ich halte es nicht mehr länger aus sie so zu sehen und im Ungewissen zu lassen. Ich kann und ich will ihr auch nicht immer wieder diese Schmerzen bereiten. Sie muss endlich die Wahrheit wissen!" - „Signore, ich habe Ihnen schon mehrfach erklärt, warum es nicht geht. Es wäre in ihrem jetzigen Zustand ein zu hohes Risiko. Wir müssen noch warten."
Diese Stimme kannte ich nicht, wenngleich sie mir doch etwas bekannt vorkam.
„Nein, Dr., das geht so nicht. Lily braucht sie dringend. Ich brauche sie."
Das Licht im Wohnzimmer erleuchtete die Terrasse. Ich hatte es mir also nicht eingebildet. Ich drehte mich langsam um, sodass ich die Beiden heimlich beobachten konnte.
„Sie muss unbedingt von selbst drauf kommen. Wir würden sie nur verwirren."
Ich sah Luca wie er sich an den Haaren raufte. Er ging zum Regal und holte eines der vielen Bücher heraus. Öffnete es und schaute es sich an, während langsam eine Träne über das starke Gesicht lief.
Der mir unbekannte Arzt Dr. Deli drängte Luca, er müsse nun endlich los und die beiden Männer verließen das Haus.
Das Buch jedoch hatte Luca vergessen wegzulegen. Nach einigen Sekunden traute ich mich aufzustehen und zum Buch zu eilen.

Als ich es öffnete, fiel mein Blick auf ein Bild.
Es war ein Bild von mir.
Im Arm von Luca. Lächelnd.
Und mit einem runden Bäuchlein.

Seine TochterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt