Kapitel 6

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„Wie meinst du das?", fragte ich verwundert. Lucas Blick jedoch senkte sich zu Boden. Mit dem Kopf schüttelnd drehte er sich wieder zur Tür. „Schon gut. Wir reden morgen weiter." Sein kurzer, sorgenvoller Blick über die Schultern in meine Richtung bevor er das Zimmer verließ, verriet mir, dass sich doch mehr hinter diesem Bild versteckte.
Als das Klicken des Türschloßes zu hören war, war ich schon wieder in das Foto vertieft. Luca sah genau so aus wie heute. Naja, etwas jünger vielleicht. Ein paar Sorgenfalten weniger auf der Stirn. Und etwas glücklicher.
Aber wer mochte ihm das auch schon verübeln? Unser Clan hatte sich in den letzten Jahren immer weiter vorgedrängt. Immer mehr Territorien übernommen. Kein Wunder, dass er da nicht gerade vor Freude in die Höhe sprang. Und klar war auch, dass er sich sorgte. Um seine Existenz, die seiner Jungs und wie es aussieht, auch um die Existenz seiner Familie.
Das Foto musste direkt nach der Geburt der Kleinen aufgenommen worden sein. Der junge Luca hielt ein kleines schwarzhaariges Bündel in den Armen.  Das kleine Mädchen war in ein Handtuch gewickelt und Luca strahlte über's ganze Gesicht. In mir regte sich etwas, jedes Mal wenn ich dieses Bild anschaute. Aber wahrscheinlich war es nur meine biologische Uhr, die mir Signale gab, meine DNA endlich weiterzutragen. Luca sah nun mal auch alles andere als schlecht aus. Das musste man zugeben, doch er war unser Feind. Niemals würde ich mich ihm einfach so hingeben. Wenn er mich haben wollte, dann nur mit absoluter Gegenwehr.
Aus irgendeinem unbekannten Grund konnte ich dieses Foto nicht aus den Händen geben. Ich starrte es immer wieder an. Versuchte mir hervorzurufen, weshalb ich dieses Mädchen hätte erkennen sollen? Ähnelte sie irgendeiner Frau, die ich getötet hatte? War einer der vielen möglicherweise Lucas Freundin gewesen? Lucas Frau? Die Mutter seiner Tochter?
So sehr ich auch versuchte mich an alle Gesichter der Frauen in Erinnerung zu rufen, denen ich auf brutale Weise das Leben genommen hatte, erinnerte ich mich nicht. Ich hatte über 150 Menschen in den letzten 5 Jahren getötet. Etwas weniger als die Hälfte davon waren Frauen gewesen. Wer hätte sich schon an jedes einzelne Gesicht erinnern können?
Ich drehte mich zum Schlafen auf die Seite. Das Foto weiterhin fest in meinem Griff.
Es dauerte nicht lange und ich viel in einen festen unruhigen Schlaf.

*

Ich blickte zu Boden und sah überall die glänzende, rote Flüssigkeit. Erst dachte ich, es wäre das Blut meiner Gegner, doch schnell bemerkte ich, dass es mein eigenes war. Es lief mir die Oberschenkel herunter und tränkten die weißen Krankenhauslaken. Meine Hände waren voll davon. Genau wie mein weißes Nachthemd.
Ich blickte zum Fenster und sah, dass sie eingeschlagenen waren. Das zersplitterte Glas lag überall verstreut auf dem Boden. Neben mir ein leeres Kinderbettchen. Nur noch ein kleiner rosafarbener Hase und das Namensschildchen am Bett. Emilia Pellegrino. 43 cm lang. 1450 Gramm schwer. Ich schrie vor Schmerzen. Doch keine körperlichen Leiden, sondern irgendwas fraß mich von innen heraus auf. Ich stand vom Bett auf, rannte so gut ich konnte aus dem Zimmer, aber dort war keiner zu sehen. Ich war komplett verlassen. Alleine. Blutend. Schreiend.
Wo waren nur alle? Das war doch ein verdammtes Krankenhaus, wo waren sie nur?
Die Ärzte? Die Pfleger? Das Kind?
Ich rannte den Flur entlang nach Hilfe suchend, bis ich plötzlich stoppte. Ich hörte Schüsse direkt hinter mir. Die Kugeln kamen mir immer näher und ich versuchte so gut es ging, mit all den Schmerzen, ihnen auszuweichen. Das Schießen stoppte. Ein Mann von großer Statur ging mit ausgestreckter Waffe auf mich zu. Er kam immer näher und ich sich immer weiter nach hinten aus. Gerade als ich mit dem Rücken an eine Wand gelehnt war, stand der Mann direkt vor mir. Ich traute mich nicht die Augen zu öffnen, doch ich wusste genau, dass sich direkt vor mir der Lauf der Pistole befand.
Seit wann war ich so ängstlich? Wer war dieser Mann? Wenn ich es herausfinden wollte, musste ich wohl oder übel doch irgendwann mal die Augen öffnen.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und schaute meinem Gegner in die Augen.
Der Mann, der die Waffe auf mich richtete, war mein Vater.

Ich schreckte schweißnass im Bett hoch. Es war alles nur ein Alptraum gewesen. Mein Mund war staubtrocken, doch ich konnte nichts zu trinken entdecken. Im Kopf ging ich die Führung durch das Haus noch ein Mal durch und erinnerte mich daran, dass ich eine Küche, links vom Wohnzimmer abgehend, gesehen habe. Also schwang ich meine Beine mit viel Kraft aus dem großen Bett und versuchte aufzustehen. Sofort merkte ich wie die Beine nachgaben. Ich war so kraftlos, als ob all meine Muskeln sich in Luft aufgelöst hätten.
Mit kleinen Trippelschritten und mich an dem Nachtschränkchen stützend, schaffte ich es dann doch zum Rollstuhl. Hoffentlich war nur die Tür nicht abgeschlossen. Ich drückte die Türklinke herunter und stieß ein kleines Dankgebet in den Himmel. Ich rollte in Richtung Wohnzimmer und ließ meinen Blick in der Dunkelheit wandern. Ich versuchte so viel wie möglich über meinen Feind herauszufinden. Doch die Wände waren komplett leer. Nirgends war ein Foto zu sehen. Abgesehen von den Büchern im Wohnzimmer waren absolut keine persönlichen Gegenstände in dem Haus verteilt. Das Foto in dem Schlafzimmer musste also absichtlich dort positioniert worden sein. Doch was versuchte Luca nur damit zu bezwecken? Und was versuchte mein Unterbewusstsein mir mit meinem Traum zu sagen? Hatte es Luca mit den paar Malen, die er bei mir gewesen ist, geschafft, Zweifel an der Loyalität zu meinem Vater zu wecken? Und was war mit dem verlassenen Babybettchen? Hätte ich mich doch bloß an den Namen erinnern können. Ich weiß, ich hatte ihn im Traum gesehen, doch jetzt war er einfach wieder weg.
In der Küche holte ich mir ein Glas aus dem Schrank links oben. Ohne zu zögern öffnete ich die Tür des Vorratsschrankes und nahm eine Flasche Apfelsaft heraus. Es war meine Lieblingsorte. Die, die ich schon als kleines Kind liebte. Ich schenkte mir etwas davon ein und verstaute die Flasche auf meinem Schoß. Dann musste ich nicht jedes Mal wieder hier hin fahren, wenn ich Durst bekam. Auf dem Rückweg sah ich die große Fensterfront an der gegenüberliegenden Seite. Ich rollte hin und öffnete das Fenster ganz rechts, dass auch als Tür diente und betrat die große hölzerne Terrasse. Die Belüftungsanlagen waren wirklich atemberaubend. Die Luft fühlte sich tatsächlich an wie eine kühle Nachtbrise im Sommer. Ich genoss die Stille und blieb einige Minuten so sitzen. Irgendwie fühlte ich mich wohl. Der innerliche Drang, von hier wegzulaufen und wieder in mein altes Leben zurückzukehren, schwand mit jedem Atemzug dieser angenehm kühlen Luft.
Aus irgendeinem unerklärlichen Grund fühlte ich mich Zuhause.

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Dieses Glas, was ich in der Hand hielt. Ich hatte es aus dem Regal genommen. Ich hatte direkt instinktiv zu dem Regal gegriffen, in dem sich die Gläser befanden. Ich hatte den Vorratsschrank mit den Säften auf Anhieb gefunden. Es waren meine Lieblingsmarke und meine Lieblingsorten, die dort standen. Und obwohl die Fenster alle gleich aussahen und man nur eines als Ausgang nutzen konnte, war ich direkt zu dem Rechten gefahren. Wir hatten nie solche Fenster gehabt und doch wusste ich, wie man sie öffnete.

Was zum Teufel war hier nur los?

Ich musste mit Luca sprechen. Er musste mehr wissen. Und er musste mich an seinem Wissen teilhaben lassen. Er musste mir erklären, was hier vor sich ging.

Seine TochterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt