Kapitel 11 - Teil 4

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Milan sog scharf die Luft ein und auch Jace schaute einen Moment ehrlich betroffen aus.
Was hatte ich diesmal nicht mitbekommen? Auf was spielte Jace an?
Mit Sicherheit war das der Grund, warum Kyle so verschlossen war. Seine Familie.

Wortlos drehte er sich um und stürmte aus dem Raum. Ich konnte gerade so den Impuls unterdrücken ihm hinterher zu rennen.
Ich stocherte weiterhin in meinem Essen herum und beobachtete Jace, der sichtlich mit sich rang. Milan aß im Gegensatz dazu seelenruhig weiter und ich fragte mich, ob ich diese Ruhe bewundern sollte.

„Was ist mit seiner Familie?", fragte ich, nicht sicher, ob ich die Wahrheit wissen wollte.
Jace schaute mich an und sah dabei unglaublich müde aus, ganz so als würde er die Last der Welt tragen müssen.
„Er hatte einen Bruder."

„Hatte?", hakte ich nach. Jace's Blick war Bestätigung genug.
„Er ist vor vier Jahren gestorben." Ich schluckte. Kyle hatte einen Bruder. Nun mischte sich auch Milan ein.
„Du hättest das nicht sagen dürfen, Jace", stellte er fest und Jace sah noch niedergeschlagener aus.
„Ich weiß."

Er schlug mit seiner Hand auf den massiven Tisch und aus den Gläsern schwappte augenblicklich Wasser auf die weiße Tischdecke.
„Jace", warnte ich ihn, bevor er in seiner Verfassung noch mehr zerstören würde.

„Lass mich in Ruhe, Claire", knurrte er und bedachte mich mit einem bösen Blick.

Ruckartig stand ich auf. Der Stuhl knallte hinter mir auf den Boden.
Ohne etwas zu sagen, drehte ich mich um und wollte Kyle hinterher. „Wo willst du hin?", ertönte Jace Stimme, mit einem scharfen Unterton hinter mir.

„Das richten, was du kaputt gemacht hast", erwiderte ich kalt und zog die Tür zu.

Kyle zu finden gestaltete sich leichter als gedacht, denn er befand sich wie immer auf dem Dach.
Er tat mir leid, wie er da so verloren da stand. Ich bleib eine Weile einfach vor der Tür stehen und genoss die milde Nachtluft auf meiner Haut.

Schweigend trat ich neben ihn ans Geländer und wie so oft beobachteten wir die Sterne.
Eine Weile hingen wir beide nur unseren Gedanken nach und seit Tagen kam ich zum ersten Mal wieder richtig zur Ruhe. Machte mir nur Gedanken um den Jungen neben mir und nicht um den Fluch oder meine Kräfte.

„Sie haben es dir erzählt oder?", wollte er von mir wissen.
„Nicht alles, nur dass er...", ich suchte nach den richtigen Worten, „gestorben ist", beendete ich schließlich meinen Satz.
Ich wusste nicht ob jetzt der Punkt war, an dem er darüber sprechen würde, da er neulich noch nicht bereit dazu war.
„Er war sechs, Claire. Sechs Jahre alt. Zu jung um zu sterben."

Ich wollte es mir nicht ausmalen, wie es wäre, wenn meine Schwester sterben würde. Denn obwohl sie selten da war, war sie mir unglaublich wichtig. Auch wenn sie manchmal anstrengend war und immer ihren Willen bekam, liebte ich sie.

„Er starb für mich", murmelte Kyle und senkte seinen Blick. Betroffen schaute ich ihn an. Unsicher, was ich nun tun sollte stand ich einfach nur da. Instinktiv griff ich nach seiner Hand und drückte sie leicht. Dankbar schaute er mich an, während er meine warme Hand nun vollkommen in seine Kalte nahm.

„Es tut mir leid für dich", brachte ich mit brüchiger Stimme heraus, wohlwissend, dass es nicht die richtigen Worte waren um das auszudrücken, was ich fühlte. Es war kein Wunder, dass er so verschlossen war.
„Was ist mit deinen Eltern?", wollte ich wissen und spürte, wie er seine Hand verkrampfte.

Er holte tief Luft, bevor er zum Reden ansetzte und den Griff wieder lockerte, mich jedoch nicht losließ, sondern nun unsere Finger miteinander verschränkte.
„Meine Mutter ist nie wirklich darüber hinweg gekommen und seitdem sehr viel Unterwegs, aber wenn sie mal da ist, dann ... ist es sehr schön und sie ist dann auch eine richtige Mutter für mich, im Gegensatz zu meinem Vater, der kaum noch mit mir spricht."

Die Worte stolperten nur so aus ihm heraus, so als hätte er sie jahrelang unterdrückt, als hätte er diese Worte mit sich herum getragen und nie jemandem erzählt. Er musste es sich von der Seele reden und auch wenn ich bezweifelte, dass ich der richtige Mensch dafür war, war ich doch froh, dass ich diejenige war, der er es erzählte.

„Wie, wie hast du es geschafft trotzdem weiter zu machen?"
Ich könnte es mir nicht vorstellen, wenn ein Teil meiner Familie fehlen würde. Daran würde ich zerbrechen und ich bewunderte Kyle, dass er weitergemacht hatte. Irgendwie.

„Ich habe weitergelebt. Für ihn." Eine nie gekannte Traurigkeit überfiel mich. Sein Bruder hatte sich für ihn geopfert, hatte ihn gerettet. Würde meine Schwester das Selbe für mich tun? Obwohl meine Schwester eigentlich nur an sich dachte, wusste ich tief in meinem Herzen, dass sie es ohne zu zögern tun würde.

Es musste schwer sein mit diesem Gewissen zu leben und ich konnte es sogar verstehen, warum seine Eltern sich distanzierten. Doch ihrem Sohn gegenüber verhielten sich seine Eltern mehr als ungerecht und mir kam es so vor, als würden sie ihm die Schuld am Tod ihres Sohnes geben.

Denn dieser Tod hat Kyle nicht nur seinen Bruder genommen, sondern seine ganze Familie.

Eine kühle, ja beinahe frische Windböe kam auf und Kyle hüllte mich auch in sein Schutzschild aus Wärme und Geborgenheit. Irgendwann würde ich ihn fragen, ob er es mir beibringen konnte, doch für den Moment wollte ich dieses Gefühl einfach nur genießen.

Er drehte sich zu mir und wir standen uns nun gegenüber. Stillschweigend musterte ich sein Gesicht. Seine scharfen Gesichtszüge, die eisblauen Augen und die schwarzen Haarsträhnen, die vom Wind zerzaust seine Stirn verdeckten.
Auch meine Haare waren zerzaust und hingen in mein Gesicht, wie ein Vorhang.

Kyle hob eine Hand und strich mir damit die Haare vorsichtig aus dem Gesicht. Er schaute mir direkt in die Augen. Eisblau traf auf braun, während er eine Strähne vorsichtig hinter meinem Ohr festklemmte. Ganz so, als wäre ich zerbrechlich.
Es kitzelte, als seine Hand dabei meine Haut streifte. Ich musste unwillkürlich lächeln und Kyle tat es mir gleich. Schenkte mir das erste ehrliche Lächeln. Ein Lächeln, dass mich irgendwo tief berührte.

„Claire", hauchte Kyle, „Danke."
Ich wagte es nicht zu atmen, als er meine Lippen musterte und sich langsam, Stück für Stück, vorbeugte.

Hüter der HimmelsrichtungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt