Kapitel 13 - Teil 4

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Ich musste Lina retten.
Ich musste Azriel zuvorkommen.

Stumm sah ich Milan dabei zu, wie er langsam alles wieder zusammenfügte. Es sah aus, als würde er eine Videosequenzen rückwärts abspielen. Kleine Splitter flogen durch die Gegend und fanden ihren alten Platz.

Staunend beobachtete ich das Vorgehen. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.
„Wie machst du das?", wollte ich wissen und stand mit offenem Mund im Gang. „So, wie du Messer erschaffst oder den Ort wechselst."

Es funktionierte immer einzig über unsere Vorstellung. So lang meine Vorstellung gut genug war, konnte ich praktisch alles. Nur die Magie der Rituale verstand ich nicht. Ich musste unbedingt wissen, was es damit und mit der Verbindung zu Zephyr auf sich hatte.

Aber an erster Stelle stand vorerst Lina, denn diese schwebte jetzt in Gefahr und es war meine Schuld.
Ich bekam nur durch Jace, der an meinem Arm zog, mit, dass die anderen Hüter sich in Bewegung gesetzt hatten.

„Was machen wir mit der Leiche?", wollte Milan wissen, der vor ihr stehen geblieben war.
Ich traute mich nicht den Mann anzusehen, den Azriel getötet hatte. Wollte nicht wissen, wie alt er war, oder ob er eine Familie hatte.

„Wir könnten ihn bestatten", wandte Jace ein.
Noch immer traute ich mich nicht ihn anzusehen.
Azriel hatte ihn ohne zu zögern umgebracht.

Ohne zu zögern sein Leben beendet. Ohne...
Eine einzelne Träne rann meine Wange herunter.
Weitere folgten.

Ich weinte um dieses Leben. Um diesen Mann, den ich nicht kannte, aber der gestorben war, weil er im falschen Moment am falschen Ort war.
Ich war mir sicher, dass ich mich niemals auf die Seite des Chaos stellen würde, komme was wolle.

Jemand zog mich in eine unbeholfene Umarmung, doch es war nicht Kyle, wie ich gehofft hatte, sondern Milan.
„Ich mach das", murmelte Kyle.

„Was ist mit der Frau, die geschrien hat?", fragte ich mit brüchiger Stimme.
Mir war nie aufgefallen, wie viel größer selbst Milan war, denn er verdeckte beinah vollständig meinen Blick auf den Mann und dafür war ich ihm in dem Moment unendlich dankbar.

„Wahrscheinlich ein Hotelgast, ich werde sie suchen und dann zu euch stoßen", erklärte Jace sich bereit und verschwand direkt.
Einen Augenblick später standen nur noch wir zwei im Flur.

Kyle war inklusive der Leiche verschwunden.
„Wir sollten zurückgehen", murmelte ich und wischte mir mit dem Ärmel meines Pullovers die Tränen weg, die glücklicherweise mittlerweile schon wieder versiegt waren.

Milan setzte sich schweigend in Bewegung.
Ich folgte ihm und ließ den Gang, in dem jemand gestorben war hinter mir. Ob er Angehörige hatte? Ob ihn jemand vermissen würde?

Nein, ich durfte nicht weiter darüber nachdenken. Mit aller Macht verdrängte ich diese Gedanken und trottete still den beiden Hütern hinterher.
Kyle war noch vor uns da und stand im Hotelzimmer, so als würde er schon eine Weile auf uns warten.

Nirgends an ihm konnte ich Blut entdecken. Ich wollte nicht wissen, wo er die Leiche vergraben hatte, also machte ich mir nicht die Mühe zu fragen.
Ich ließ mich auf einen der senfgelben Hotelsessel fallen und starrte vor mich hin.

Im Geist ging ich noch einmal die Unterhaltung mit Azriel durch.
Er würde Lina ohne zu zögern umbringen. Er würde jeden, der mir nahestand töten, nur um mich auf seine Seite zu ziehen.

Hüter der HimmelsrichtungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt