Kapitel 2: Mein Retter

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Als meine Eltern am späten Nachmittag nach Hause kommen, versuche ich strengstens, mir nichts von meiner schlechten Laune anmerken zu lassen. Meine Mutter steht gerade in der Küche und kocht uns etwas, dessen Duft die komplette Küche ausfüllt. Ich geselle mich zu ihr und beginne eine unangenehme Konversation. Mit schuldbewusster Stimme erzähle ich ihr davon, dass ich nicht mehr als Ballmädchen arbeiten werde. Sie versucht mich mit einfühlsamer Stimme zu überreden, doch ist es nun schon zu spät. Als sie merkt, wie ernst ich es meine und dass ich schon gar kein Ballmädchen mehr bin, rutscht ihr die Hand aus. Ein pochender Schmerz bereitet sich von meiner Wange über mein ganzes Gesicht aus und in meinem Ohr klingelt etwas. Sie schreit mich an. "Was hast du dir dabei gedacht? Ich habe mich so für dich ins Zeug gelegt und nach ein paar Monaten gibst du schon auf? Nie kann man dir etwas Recht machen, du bist viel zu undankbar." Ich möchte ihr widersprechen, doch sie lässt es nicht zu. "Wag es ja nicht, mir jetzt wieder mit deinen Lügengeschichten zu kommen. Er ist ein sehr charmanter, netter Mann und du hast es mehr als verdient, wenn er dich zurechtweist, weil du dich wieder einmal bescheuert anstellst." Mir bleiben die Worte, die ich ihr jetzt gerne ins Gesicht schreien würde, im Hals stecken und es entsteht ein Kloß, der mir die Luft zum Atmen nimmt. Mit Tränen in den Augen flüchte ich in mein Zimmer. Ich lasse die Türe hinter mir zuknallen und werfe mich in mein Bett. Unverstanden fühle ich mich, wie Dreck. Die Zeit vergeht, die Nacht bricht ein, doch ich stehe nicht auf. Ich bleibe lange in meinem Bett liegen, den Kopf in mein Kissen gedrückt, welches vom Weinen ganz nass geworden ist und sich deshalb auch nicht mehr so schön anfühlt, wie es sollte. Erst als ich so dringend auf die Toilette muss, dass die Gefahr droht, ins Bett zu machen, überwinde ich mich und stehe auf. Halb rennend, halb taumelnd schleiche ich mich ins Badezimmer. Nach dem Pinkeln stelle ich mich vor den Spiegel. Das Gesicht, das mir entgegenschaut, kommt mir fremd vor. Die geschwollenen Augen sind nicht die meinen, so scheint es mir. Dieses Mädchen im Spiegel ist unsichtbar, man würde sie nicht bemerken, stände sie vor einem. Vielleicht ist das der Grund, warum man es behandelt wie ein etwas. Es wird geschlagen, angeschrien, gedemütigt. Dieses Mädchen ist müde, müde wegen all den Dingen, die ihr den Schlaf rauben. Manchmal glaubt es, es wäre besser, wenn es nicht mehr da wäre.

Obwohl es schon nach Mitternacht ist, schlurfe ich zur Haustüre und laufe die Straße entlang. Ich muss raus aus diesem Haus. Keiner wird es bemerken, jeder schläft. In vereinzelten Häusern brennen noch Lichter und ich überlege, was man zu so später Stunde wohl noch tun kann. Wenn man nicht gerade durch die Straßen läuft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Vor mir entdecke ich den kleinen Stadtpark und ich suche mir eine Bank aus, auf der ich mich niederlassen kann. Kein Geräusch ist zu hören. Wie sonst auch beobachte ich die Sterne, die in unterschiedlichen Erleuchtungen auf dieses Städtchen niederscheinen. Der Mond ist rund und ich muss schmunzeln, als ich daran denke, dass ich als kleines Kind tatsächlich dachte, er bestände aus Käse. Damals war ich unbeschwert und frei, ich liebte meine Eltern und konnte mit ihnen über alles reden. Doch seit vor einem Jahr mein kleiner Bruder an Plötzlichem Kindstod gestorben ist, hat sich alles geändert. Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen. Wie ich die Tür öffne, um zu sehen, woher der Schrei kam und vor allem, warum mein Vater geschrien hat. Wie mich meine Mutter mit den emotionslosesten Augen, die ich je sah, anblickt und zusammenknickt. Der Notartzt. Das leere Bettchen meines Bruders. All diese schmerzhaften Erinnerungen sind tief in meinem Kopf vergraben und doch suchen sie mich jede Nacht in Form von Alpträumen heim. Meine Mutter hat begonnen, ihren Frust mit Alkohol zu ertränken und mein Vater ist völlig in sich gekehrt. Er spricht kaum mehr ein Wort und ist so gut wie nie Daheim.

Jetzt sitze ich hier, es gibt nur mich und die Stille. Ich wünschte, es wäre auch in mir drinnen so still wie in diesen Nächten. Ich wünschte, ich könnte die Stille einpacken und mit nach Hause nehmen. Aber natürlich geht das nicht. Mit geschlossenen Augen genieße ich die kühle Luft, die sich in meine Poren drängt. "Sag mal, spinnst du?!" Mir entfährt ein lauter Schrei und vor Schreck falle ich von der Parkbank. "Du bist mir ja eine, los komm, ich helfe dir hoch." Wieder auf den Beinen streiche ich mir den Staub von meiner Hose und schaue meinem Gegenüber ins Gesicht. Mit rasendem Herzen stelle ich fest, dass es sich um den Tennisspieler handelt, der mir heute schon einmal geholfen hat. Er selbst zieht seine Jacke aus und legt sie mir sorgsam um die Schultern. In seinen Augen sehe ich, dass er mich jetzt auch erkannt hat. Er lächelt leicht. "Du bist doch das Mädchen von heute morgen! Das Ballmädchen, oder?" Unsicher nicke ich und stecke meine Arme in die Ärmel seiner Jacke. Sofort wird mir wärmer und ich merke erst jetzt, dass ich schon vor Kälte gezittert habe. Mein Gegenüber setzt sich auf die Bank, von der ich eben gefallen bin und klopft auf den Platz neben sich. Ich setzte mich zu ihm und lasse genügend Platz zwischen uns. Eine gewisse Distanz ist immer gut. "Was machst du denn hier draußen? So alleine, mitten in der Nacht. Das ist doch gefährlich." In seiner Stimme schwebt ein Hauch Vorwurf, aber vielmehr Sorge. "Ich ... ich weiß es nicht so genau." Mit gesenktem Kopf warte ich darauf, dass seine Stimme, die so weich klingt wie ich mir eine Wolke vorstelle, wieder sanfte Worte spricht. "Du bist mir ja eine. Soll ich dich nach Hause bringen?" Ich schüttle wieder meinen Kopf und stehe auf. "Es ist nicht weit, ich kann laufen. Danke trotzdem." Mit aufgesetztem Lächeln will ich mich auf den Weg machen. Beim Gedanken daran, wieder in dieses Haus zu gehen, zu diesen Leuten. Es ist nicht schön, dieses Gefühl. "Dann begleite ich dich." Entschlossen steht auch er auf und läuft kurz darauf neben mir her, immer weiter die Straße entlang. Es ist mir total peinlich, ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, wenn dieser Mann bei mir ist. Sind meine Schritte normal? Wo soll ich meine Hände hintun? Kann er mein Herz schlagen hören? Bedacht unauffällig laufe ich. Er läuft. Es kommt mir dämlich vor. Dann spricht diese Wolkenstimme unerwartet und bricht das Schweigen. Aber ich wünschte, er hätte etwas anderes gesagt.

"Willst du mir nicht sagen, warum du hier bist?" Ich kann nicht anders. Er hat etwas vertrauenvolles an sich, etwas, in das man sich einkuscheln möchte für immer.

"Ich habe es daheim nicht mehr ausgehalten."

"Wieso?" Seine Frage kommt etwas zu schnell und ich schaue ihn fragend an. "Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst. Tut mir leid." Selbst in dieser Dunkelheit, die nur von wenigen vereinzelten Straßenlaternen durchleuchtet wird, kann ich sehen, wie er errötet und beschämt auf seine Füße blickt.

"Schon gut. Es ist nur ... ich rede nicht gerne darüber. Da vorne ist übrigens mein Haus. Danke, dass Sie mich begleitet haben." Eilig verabschiede ich mich von ihm und will gerade abhauen, als er mich zurückhält. Bei der Berührung seiner Hand mit meinem Arm, weiche ich reflexartig zurück. Er schaut mich mit großen Augen an. "Ähm ... ich, also ... da habe ich einen blauen Fleck. An meinem Arm, Sie wissen schon. Blauer Fleck." Ein seltsames, falsches Lachen dringt aus meinem Mund und ich komme mir blöd vor, weil ich ihn so schlecht angelogen habe, dass er es ganz sicher bemerkt hat. Flink ziehe ich seine Jacke aus und drücke sie ihm in die Hand. Noch einmal nuschle ich einen kurzen Dank und renne über die Straße zu meinem Haus. Mit zitternden Händen, ohne mich nochmals umzuschauen oder auf seine Verabschiedung zu reagieren,  stecke ich den Schlüssel ins Loch und stürme durch das Wohnzimmer bis zu meinem Schlafzimmer. Die Tür schließt sich hinter mir. Neugierig verstecke ich mich unter dem Fenster und beobachte, wie mein Retter verwundert auf dem Gehweg steht, sich die Jacke überzieht und mit eleganten Schritten weiterläuft. Ich sitze so, bis er nicht mehr zu sehen ist. Mein Herz klopft wild und ich sinke auf den Boden, strecke alle Viere von mir und blicke zur Decke. In dieser Nacht bekomme ich kein Auge zu und denke viel zu sehr an diesen Mann, den ich ja eigentlich gar nicht kenne, bei dem es mir aber so vorkommt, als kenne er all meine Geheimnisse und könnte in mein tiefstes Inneres schauen.

Mr. TennisstarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt