Kapitel 4: Erste Zärtlichkeiten

110 4 5
                                    

Noch immer habe ich mich nicht hier eingelebt, wo ich doch schon seit fünf Tagen hier wohne. Meinen Hungerstreik halte ich nicht länger aus, einmal brachte mir ein junger Mitarbeiter zwei belegte Brötchen, doch mehr habe ich nicht gegessen. Jetzt weiß ich, was wahrer Hunger bedeutet. In meinem schwarzen Kapuzenpulli schleiche ich mich durch die weißen Gänge und fühle mich dabei wie ein Flüchtling in einer Anstalt für Geisteskranke. Wahrscheinlich bin ich das auch, was weiß ich denn schon? Vor mir steht die Tür zur Küche weit offen und ich rieche den Duft frisch gebackener Brötchen. Das erinnert mich an meine Kindheit, daran, wie wir jeden Morgen zusammen um den Tisch versammelt saßen und gemeinsam Frühstückten. Es waren schöne Zeiten und ich vermisse dieses Gefühl, eine Familie zu haben. Es ist, als sei ich hier ganz allein. Heute bin ich auf dem Gang noch keinem begegnet, doch jetzt ist es unausweichlich. Da stehen Jugendliche, Kinder, Beobachter. Darauf achtend, keinem zu nahe zu kommen, schleiche ich mich zwischen der Menschenmasse hindurch zum Tresen und klaue mir ein Brötchen mit Käse. So unauffällig wie ich gekommen bin, versuche ich mich auch wieder in mein Zimmer zu schmuggeln. Vergebens. Ein junges Mädchen, etwa so alt wie ich, stellt sich hinter mich und begrüßt mich. Viel zu freundlich, sie macht mir Angst. "Hi! Du bist neu hier, oder? Ich hab gehört, dass du seit fünf Tagen hier bist und bisher noch nicht aus deinem Zimmer gekommen bist. Dann hast du jetzt bestimmt furchtbaren Hunger." Sie zwinkert mir mit ihren viel zu sehr geschminkten Augen zu. Mit einem falschen Lachen wende ich mich von ihr ab, doch sie verfolgt mich einfach. "Wenn du willst, kann ich dir hier alles zeigen. Es ist nicht so schlimm wie es scheint, ich habe es auch geschafft. Mein Name ist übrigens Ally. Und du bist?"

"Madeline." Damit gibt sie sich zufrieden und hakt sich bei mir ein, ich weiche zurück. "Fass mich nicht an, bitte." Ihr Gesicht färbt sich rot und sie kommt sich ziemlich blöd vor. Mir egal, ich will nichts von ihr wissen. "Sorry. Wie alt bist du eigentlich? Also ich bin 14." Wow. Sie sieht viel älter aus als 14! Liegt wahrscheinlich and der vielen Schminke, die ihr komplettes Gesicht maskiert. Ich bleibe stehen und will die Tür zu meinem Zimmer öffnen. Dieses Mädel hat mich bis zu meinem Zimmer verfolgt. "Ich bin 16." Das sind die letzten Worte, die sie von mir zu hören bekommt, dann sind wie getrennt von einer schweren Tür. Innerhalb weniger Sekunden habe ich mein Brötchen verschlungen, mein Magen knurrt aber noch immer. Hätte ich mir doch lieber gleich zwei genommen! Bereuend nehme ich mir mein Handy und lasse das Display erleuchten. Niemand hat mich angerufen oder mir wenigstens geschrieben. Mein Vater hat mich also vergessen. Meinen Freundinnen bin ich plötzlich auch egal? Diesen Tag verbringe ich wie die anderen damit, in meinem Bett zu liegen und das Buch zu lesen, das mir eingepackt wurde. Ich habe es zwar schon zweimal gelesen, aber etwas besseres fällt mir im Moment nicht ein. Nicht einmal Musik habe ich hier.

Es ist trostlos, bis ich mal wieder ein Klopfen an meiner Türe höre. Ich stehe auf und sehe nach, wer mich stört. Da steht er wieder vor mir. Reflexartig springe ich vor und umarme ihn, ich werde ihn nicht wieder gehen lassen! Er aber denkt nicht so und weist mich zurück, sein Körper sagt, dass ich Abstand halten soll, doch sein Blick sagt mir etwas anderes. "Mach das nicht mehr. Ich bin viel älter als du und dann sieht das etwas seltsam aus."

"Uns sieht doch hier eh keiner ... Warum bist du hier?" Wir setzten uns nebeneinander auf mein Bett. "Ich dachte, dass du dich vielleicht über etwas Gesellschaft freust." Er dreht seinen Kopf zu mir und grinst mir derart sexy entgegen, dass mein Herz Luftsprünge zu machen scheint. "Warst du denn jetzt schonmal draußen? Hast mit jemandem geredet, etwas gegessen, was weiß ich?"

"Nicht wirklich."

"Na worauf wartest du dann? Zieh dir was über und ich lade dich auf ne Pizza ein." Er scheint mächtig stolz auf diesen Vorschlag zu sein.

"Darf ich denn das Gebäude verlassen?"

"Mit mir schon."

"Dann schau weg oder geh vor die Tür, wenn ich mich umziehe." Er geht nicht vor die Tür, sondern dreht sich weg. Langsam ziehe ich mir die Hose aus, das Oberteil. Noch immer habe ich große, mittlerweile fast schwarze Flecken auf meiner Haut. Die in meinem Gesicht verblassen langsam wieder und ich sehe nicht mehr ganz so schlimm auf wie vor fünf Tagen. Weil ich nicht weiß, wo meine Jeans liegt, muss ich sie erst suchen. Da entdecke ich sie direkt neben dem Bett. Direkt neben meinem Gast. Leise schleiche ich mir vor und greife nach der Hose, als sich unsere Blicke treffen. Jetzt hat er mich gesehen, na toll. Ich kann mein rot anlaufendes Gesicht förmlich spüren, er ist aber nicht weniger farbig. Für wenige Sekunden bleiben wir so stehen, schauen uns nur in die Augen, während ich mich aufrichte und einen Schritt nach hinten mache. Etwas in mir will, dass er mich küsst, doch er tut es nicht. Mit meinem Zeigefinger schiebe ich seinen Kopf wieder in Richtung wand und ziehe mich schnellstens um.

Als wir wortlos nebeneinander hergehen auf den Straßen, ich den kühlen Wind in meinem Gesicht spüre, geht es mir endlich wieder ein klein wenig besser. Hier hat es keine trostlose Atmosphäre, nicht im Geringsten. Die Pizza essen wir ebenfalls schweigend. Keiner von uns traut sich, etwas zu sagen. Wir schauen uns nur an. Ich sehe in seine Augen. Auf jede seiner leichten Sommersprossen. Auf seine herrlichen Hände, von denen ich wünschte, dass sie mich berühren würden. Auf seine schmalen Lippen, von denen ich mir ersehne, dass sie mich küssen würden. Die Pizza tat mir gut, mein Bauch fühlt sich nicht länger wie ein Loch an. Beim Rückweg in das Heim laufen wir nebeneinander her. Die Stille nimmt ein Ende, denn er bekommt einen Anruf, sagt, es sei Wichtig und geht ran. Nur einzelne Wortfetzen kommen aus seinem Mund, ich verstehe keinen Zusammenhang. Er legt auf und schaut zu mir. "Mein Gegner für nächste Woche ist das Arschloch von damals, du weißt schon, der Vollidiot." Ich bekomme nicht mehr heraus als ein Oh und er redet einfach weiter. "Ich werde ihn fertig machen für dich." Seine Hand umfässt die meine und wir verhaken unsere Finger ineinander. "Wirst schon sehen, Weltmeister hin oder her. Willst du nicht mein Ballmädchen werden?" Oha, das kam unerwartet und trifft mich mit voller Kraft. Ich? Sein Ballmädchen? Nichts lieber als das! Dann könnte ich viel mehr Zeit mit ihm verbringen. "Ja klar will ich dein Ballmädchen werden!" Jetzt laufen wir beide mit einem breiten Lächeln im Gesicht durch die Straßen und ziehen die Blicke der fremden Leute auf uns. Sei es wegen dem Händchenhalten oder wegen dem Grinsen, es kümmert mich nicht. Ich bin einfach nur glücklich, bei ihm zu sein. "Wie alt bist du eigentlich?"

"Ich bin ganze 15 Jahre älter als du ..." Krass. Woher er mein Alter weiß ist mir egal. Er ist tatsächlich schon 31. Das ist alt, aber was soll ich dagegen tun, dass ich mich von ihm angezogen fühle? Gegen wahre Gefühle kann man nichts machen, richtig? Doch ... sind das wirklich wahre Gefühle? Oder ist es nur diese Anziehung, weil er mich beschützt hat und der einzigste Mensch ist, der sich um mich sorgt und mich sogar besuchen kommt, während der Rest der Welt für mich untergeht?

Mr. TennisstarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt