Kapitel 5: Verletztlichkeit

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Natürlich war es unausweichlich, dass ich in nächster Zeit wieder zur Schule gehen müsste. Noch immer den Gedanken an jenen wunderschönen Tag nachhängend trotte ich also heute Morgen zur Schule. Wenn es nach mir ginge, hätte ich auch noch etwas länger in meinem Zimmer sitzen können. Als ich damals zurückgekommen war, bin ich nicht wieder rausgekommen. Der junge Aufpasser hat mir wieder Essen gebracht und einmal hat sogar Ally bei mir geklopft. Aber nichts da, ich will noch immer nichts von ihr wissen. Es muss gestern Abend geregnet haben, denn der Boden ist feucht und die kühle Luft umgibt mich. Mir ist kalt. Könnte ich jetzt doch nur seine Jacke tragen! Vor mir sehe ich schon das alte Schulgebäude und nichtsahnend betrete ich den Eingangssaal. Taylor, meine "Freundin", rennt stürmisch auf mich zu und schließt mich ohne Vorwarnung in die Arme. Wie versteinert bleibe ich stehen und starre sie fassungslos an. "Wozu war das denn?"

"Du Arme! Wieso hast du mir nie etwas erzählt?" Vorwurf ist aus ihrer Stimme zu hören. Sie wirft ihre Haare zurück und hakt sich bei mir ein, als wir zu unserem Klassenzimmer gehen. Ich wimmle sie ab. "Was meinst du bitte?" Taylor bleibt abrupt stehen. "Du weißt schon. Deine Mom?" Jetzt verstehe ich, was sie meint. Wer hat ihr das gesagt? Es geht sie doch gar nichts an. "Woher -" Mit ihrem Zeigefinger, den sie mir auf die Lippen legt, bringt sie mich zum Schweigen. "Es weiß mittlerweile die ganze Schule, also frag nicht. Uns wurde mitgeteilt, dass du vorerst nicht kommen wirst. Frau Müller hat dann bei dir angerufen und uns die Geschichte erzählt. Wir sollen ganz lieb sein zu dir." Das kann doch jetzt nicht wahr sein?! Sie lügt mich an, sie lügt, lügt, lügt! Sie lügt nicht. Sowie ich die Türe aufschlage zum Klassenzimmer und an meinen Platz laufe, werde ich mit Blicken durchbohrt. Manche schauen mitleidig, andere eher genervt, weil sie jetzt selbst keine Aufmerksam mehr bekommen.

"Da bist du ja wieder!" Es ist Martin, der Junge, der mich nie in Ruhe lassen wird. Er kommt schon seit der fünften Klasse jeden Tag zu mir und macht mir schöne Augen. Er ist mir zu aufdringlich und vor allem viel zu kindisch. Er sieht auch noch so aus, als wäre er gerade aus den Windeln. "Hau ab, Matty." Meine deutlichen Worte ignoriert er einfach und setzt sich auf den leeren Stuhl neben mir. Ein genervtes Stöhnen dringt aus den Tiefen meiner Kehle und noch genervter schaue ich ihm entgegen. "Ich meins ernst. Verpiss dich." Noch immer bleibt er taub und stützt seinen Kopf auf seine Hände. Er mustert mich. Ebenfalls nicht erfreut über Mattys Anwesenheit ist Taylor, denn jetzt mischt auch sie sich ein. "Bist du blöd oder so? Zieh Leine!" Sie betont ihre Worte mit einer ausschweifenden Handbewegung. Es funktioniert und er steht auf, läuft traurig davon. Leid tut er mir trotzdem nicht, da kann er noch so niedergeschlagen dreinschauen. Meine Hoffnung, jetzt alleine zu sein, erfüllt sich trotzdem nicht. Taylor denkt gar nicht daran, mich in Ruhe zu lassen. "Jetzt erzähl doch mal, Maddy." Einen Scheiß werde ich tun! Vorher kam sie doch auch nur zu mir, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht hatte. "Nein, wieso sollte ich?"

"Weil wir es alle wissen wollen? Hallo? Warum hast du denn jetzt so schlechte Laune?"

Ich verdrehe die Augen und packe meine Sachen, um wieder zu gehen. Gerade als ich auf die Türe zusteuere, tritt meine Lehrerin ein. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, dränge ich mich an ihr vorbei und spüre wieder, wie mir alle hinterherschauen. Ich laufe weiter, aus der Schule raus, die Straßen entlang. Bis zum Tennisplatz. Der Türsteher freut sich, mich zu sehen und lässt mich herein. Nur wenige Spieler proben heute und ich merke, dass dieser eine, den ich sehen wollte, nicht da ist. Nur um ganz sicher sein zu können schaue ich auf den Trainingsplan. Er kommt erst heute Abend. Schade. Da ich nicht weiß, was ich mit meiner freien Zeit anfangen soll, gehe ich in das Tenniscafe. Die Bedienung ist verwundert, dass ein Schulmädchen nicht in der Schule sitzt, sondern ganz allein in einem geschlossenen Cafe. Sie setzt sich zu mir. "Kann ich dir irgendwie helfen?"

"Nein. Mir ist nur langweilig." Damit gibt sie sich nicht zufrieden. Sie setzt sich zu mir. "Musst du jetzt nicht in der Schule sein? Du siehst noch sehr jung aus."

"Ich habe heute keinen Unterricht wegen einem Musical, das an meiner Schule aufgeführt werden soll." Na also, diese Lüge geht locker über die Bühne und ich bin selbst erstaunt darüber. Die Bedienung lächelt zufrieden und kauft mir die Ausrede ab. "Na dann." Sie steht auf. "Du kannst weiter hier sitzen bleiben oder du hilfst mir das Cafe zu eröffnen. Macht dir bestimmt Spaß." Mit  einem Zwinkern zeigt sie mir, dass sie nur nach einer kostenlosen Arbeitskraft sucht. Aber was habe ich besseres zu tun? Also stehe ich auf und helfe für die nächsten Stunden, Brötchen zu belegen, Tische zu wischen und Getränke zu holen. Es macht mir wirklich Spaß! Einen Moment lang überlege ich, ob ich nicht nach der Schule hier arbeiten soll, doch dann fällt mir der niedrige Lohn wieder ein und die Idee zerplatzt. Meine Beine fangen langsam an zu schmerzen von dem Laufen und Stehen, doch schlagartig spüre ich nur noch mein bebendes Herz, als er in das Cafe tritt. Ich begrüße ihn und erwarte ein Lächeln in seinem Gesicht zu sehen, als er mich ebenfalls begrüßt. Doch da ist nichts, er sieht kein bisschen erfreut aus. "Hey, was machst du denn hier?" Was ist nur los mit ihm? "Ich habe etwas ausgeholfen. Alles klar bei dir?"

"Ähm. Bitte sag nicht du zu mir in der Öffentlichkeit. Das kommt nicht sehr gut. Ich muss jetzt auch los, wir reden später." Da packt er seine Sporttasche und läuft weg. Verwirrt und unsicher schaue ich ihm hinterher. Das kommt nicht sehr gut. Wo ist die Vertrautheit zwischen uns hinverschwunden? Weil ich keinen klaren Kopf mehr bekommen werde für den restlichen Tag, frage ich, ob ich gehen darf. Natürlich darf ich. Meine "Chefin" schenkt mir zum Dank  einen Gutschein und meint, ich könne jederzeit wieder helfen. Frustriert mache ich mich auf meinen Heimweg. Wenn er später mit mir reden will, soll er doch zum Heim kommen. Ich warte keine Sekunde länger auf ihn, auch, wenn ich mich noch so sehr nach ihm sehne.

Der Tag vergeht und nichts passiert. Da bildet sich schleichend ein Loch in meinem Herzen, das nur einer wieder füllen kann. Ich bekomme Ärger, weil ich die Schule geschwänzt habe, aber mehr auch nicht. Er kam nicht. Er hat mich vergessen. Vielleicht habe ich ihn verärgert oder er mag mich nicht mehr? Mit Tränen in den Augen setzte ich mich in den Gemeinschaftsraum. Keiner beachtet mich, was auch gut so ist. Hier sitze ich für den Rest des Tages, bis die Nacht anbricht und ich in mein Zimmer geschickt werde. Etwa eine halbe Stunde nachdem ich mich eingeschlossen habe, klopft es an meiner Tür. Als ich öffne, steht der junge Mitarbeiter vor mir und lächelt verlegen. Was ist denn jetzt los?

Mr. TennisstarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt