Kapitel 3: Neubeginn?

107 5 3
                                    

Auch am nächsten Tag schwirrt mein Retter in meinem Kopf herum. Noch immer fühle ich mich schwach. Ohne zu überlegen öffne ich die Türe zu dem Zimmer, das eines Tages meinem Bruder gehören sollte. Stickige Luft umgibt mich und eine trostlose Atmosphäre herrscht in diesem Zimmer. Gedankenverloren setzte ich mich auf den Boden und nehme eines der kleinen Kuscheltiere in meine Hände. Der Stoff ist staubig und die Kulleraugen der Stoffschnecke starren mich leer an. Ich streiche die Nähte nach, möchte jedes noch so kleine bisschen Stoff zwischen meinen Fingern spüren. Diese Schnecke lag immer neben seinem Bett, ich habe sie ihm gekauft, als ich hörte, dass meine Mutter schwanger war. Er hat dieses Ding geliebt und immer darauf rumgesabbert. Während er auf dem Stoff gekaut hat, wurde ich damals ständig nervös und habe es ihm weggenommen, bis er geweint hat. Er hat mich bestimmt nicht leiden können deswegen und ich hatte keine Zeit mehr, ihm zu zeigen, dass ich gar nicht so böse bin, wie er glaubt. Ich hatte keine Zeit mehr, ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn tatsächlich liebe. Er war auf einmal nicht mehr da. Weg, für immer. Was wäre wohl, wenn er nicht ...

"Was machst du hier?" Es ist die ruhige Stimme einer bösen Frau. Meine Mutter steht mir gekreuzten Armen hinter mir und schaut auf mich herab mit ihrem vernichtenden Blick. Mein Fluchtinstinkt meldet sich, doch ich kann nicht einfach abhauen. Es ist aussichtslos, ich muss aufstehen und ihr sagen, dass ich nur nachdenken wollte. Sie glaubt mir natürlich nicht. "Wie kannst du es wagen, seine Sachen anzufassen?" Mit ihren faltigen Händen reißt sie mir die Schnecke aus der Hand und vergräbt ihr Gesicht darin. Jetzt sehe ich meine Chance und dränge mich an ihr vorbei aus dem Zimmer, doch so eine gute Idee war das nicht. Mutter verfolgt mich bis zur Küche. Ich ignoriere es und tue so, als wollte ich mir etwas zu Trinken einschenken, als sich ihre Nägel in meinen Arm bohren und mir unerwartet eine Wucht ins Gesicht schlägt. Etwas Warmes tropft aus meiner Nase, helle Flecken tanzen vor meinen Augen. Ich bin noch zu perplex, um mich zu rühren, merke jedoch, wie meine Mutter wieder ausholt. Da klingelt es plötzlich an der Tür und sie hält inne. Ich möchte rennen, weg von ihr, doch sie hält mich auf und schlägt wieder zu, wieder und wieder. Nach fünf oder sechs Schlägen sacke ich zu Boden und bekomme gar nicht mehr mit, was geschieht. Da ist nur noch dieser höllische Schmerz, der mir das Bewusstsein nimmt.

Als ich wieder aufwache fühlt sich mein Körper an, als wäre er mit Steinen gefüllt, meine Beine sind aus Blei, als ich sie vom Sofa schwinge. Das Brummen in meinem Kopf macht mich ganz wahnsinnig. Um mich blickend frage ich mich, warum ich auf dem Sofa liege und neben mir meine Sporttasche steht. Sie sieht nicht gerade leer aus. Benommen stehe ich auf, doch ich muss mich gleich wieder setzten, denn mir ist viel zu schwindelig zum Laufen. Plötzlich nehme ich eine fremde Frauenstimme wahr, sie kommt aus der Küche. Mein Vater erwidert etwas, seine Stimme ist so ruhig und traurig wie immer. Ich frage mich, was da los ist und drehe vorsichtig meinem Kopf in Richtung Küche. Eine mollige Frau mit formeller Kleidung unterhält sich mit meinem Vater. Er sieht aus, als hätte er geweint und es bereitet mir Sorgen, ihn so zu sehen. Mein Mund ist ausgetrocknet und mein Ruf wird zu einem Krächzen. Einer hat mich aber doch gehört und kommt mit lauten Schritten auf mich zu, er ist sehr groß und trägt die typische Kleidung eines Notarztes. "Langsam, langsam! Vorsichtig bitte. Wie fühlst du dich, Madeline?"

"Ich fühle mich wie ein Stein mit Kopfschmerzen. Was ist denn passiert?" Der Blick des Arztes wird trüb und er kniet sich vor mir auf den Boden, schaut mir tief in die Augen. Mir fällt auf, dass er noch sehr jung ist, keinesfalls älter als 30. "Naja. Deine Mutter hat dich bewusstlos geschlagen. So lange, bis die Polizei kam und sie von dir weggezerrt hat. Aber keine Sorge, alles wird gut werden." Er lächelt aufmunternd, doch es sieht gespielt aus und ich komme mir vor wie eine Witzfigur. "Was meinen sie damit?" Er legt seine Hand auf meine, doch ich ziehe sie wieder weg, er soll mich nicht anfassen mit seinem gespielten Mitleid, ich brauche das nicht. "Du wirst wohl vorerst in einem Jugendheim unterkommen. Dort ist es schön, es gibt gleichaltrige Mädchen und du hast deine Ruhe." Schwere Hände legen sich auf meine Schultern und ich erkenne meinen Vater. "Es ist das Beste, wenn du von hier wegkommst. Ich werde dich besuchen kommen, versprochen." Wie kann mein Vater so etwas sagen?! Habe ich jetzt keine Mitsprache mehr? Nein, natürlich nicht. Mein Protest war umsonst und schon wenige Stunden später stehe ich allein in einem Zimmer, das nach Reinigungsmittel riecht und dessen weiße Wände mich umringen, als wäre ich in einer Zelle gefangen. Die Möbel sind frisch geputzt, doch man sieht trotzdem, dass sie älter sind als meine Oma. Von jeder Hoffnung verlassen schmeiße ich meine Tasche in eine Ecke des Raumes und fange weinend an, sie auszuräumen. Bei jeder Bewegung zucken Schmerzen durch meinen Körper, doch ich schaffe es. Ich komme mir selbst fremd vor wie nie zuvor. Es ist, als sei ein Unbekannter in mir drinnen und verdrängt mein wahres Ich.

Am nächsten Morgen bleibe ich in meinem Bett liegen und verdränge die Stimme vor meiner Türe aus meinem Kopf. Frühstück. Was soll ich denn jetzt mit Essen anfangen? Es wird Mittag und ich schaffe mir eine künstliche Nacht, indem ich die Vorhänge vorschiebe und die Sonne nicht mehr zu mir scheinen kann. Die Zeit vergeht und das gleichmäßige Ticken des Uhrwerks entspannt mich. Es ist genauso eintönig wie es in mir drinnen zu sein scheint. Als ich auf die Uhr schaue, sehe ich, dass es schon später Nachmittag ist. Noch immer lasse ich keinen in mein Zimmer, ich beginne einen Hungerstreik und bin genervt, als es zum hundertsten Mal an meiner Tür klopft. Doch dieses Mal ist nicht wie erwartet wieder die unheimlich tiefe Männerstimme da, sondern eine andere. Eine Wolkenstimme. Ich schrecke auf und bin augenblicklich hellwach. Schnell fahre ich mit meinen Händen über mein zerstrubbeltes Haar, doch es fühlt sich auch danach noch schrecklich an. Mit zittrigen Händen drücke ich den Türhenkel runter und öffne die Türe nur einen Spalt breit, um mich zu versichern, dass auch wirklich nur einer dort steht. Nur er. Tatsächlich ist er allein und tretet ein, als ich ihm richtig öffne. Als wäre das sein Zimmer setzt er sich auf den kahlen Holzboden und schaut mich erwartend an. "Es tut mir leid." Fragend erwidere ich den Blick und setze mich ihm gegenüber. "Was?"

"Es ist meine Schuld, dass du jetzt hier bist." Er senkt seinen Kopf und ich kann nicht weiter in seine Augen schauen. "Ich wollte gestern zu dir kommen und fragen, wie es dir geht. Du hast mir Sorgen bereitet. Zum Glück, sonst wärst du jetzt vielleicht noch dort. Ich habe deine Mutter gesehen und du lagst da auf dem Boden. Ich ... ich wusste nicht was ich tun sollte und habe die Polizei geholt." Er war es also. Er hat mich in diese Scheiße geritten! "Wie konntest du nur." Jetzt sage ich also schon du zu ihm. "Sowas kann die doch nicht mit dir tun! Sieh dich doch mal an!" Erschrocken starre ich ihn an. Seine Wolkenstimme kann also auch anders. Aber er klingt nicht böse oder nachtragend, er klingt eher so, als mache er sich riesige Sorgen. Um mich! Errötend stehe ich auf und laufe zum Spiegel, in den ich noch nicht geschaut habe seit ich hier bin. Jetzt verstehe ich, was er meint. Mein Gesicht ist übersäht von blauen und lilafarbenen Flecken. Meine Lippen sind verkrustet. Ich sehe aus wie ein Zombie. Beschämt verstecke ich mein entstelltes Gesicht hinter meinen Händen, spüre die warmen Tränen, die durch meine Finger wandern. Spüre den heißen Körper, der hinter mir steht und die Arme, die sich schützend um meine Körper legen. Sein Atem kitzelt mich an meinem Ohr. "Sieh es doch als einen Neubeginn." Wie gerne würde ich etwas erwidern, einen Dank möglicherweise, doch kann ich nicht aufhören zu heulen. Er hält mich sicher, so lange bis ich mich beruhigt habe. Ohne erneut in mein Spiegelbild zu schauen drehe ich mich um und löse mich aus der Umarmung. Endlich kann ich wieder sprechen, zwar mit unsicherer Stimme, aber immerhin sind es Worte, die aus meinem Mund kommen. "Danke. Du hast recht. Irgendwie wollte ich ja selbst nicht mehr dort bleiben, aber ein Heim?! Es ist alles ganz fremd und ich fühle mich im Stich gelassen." Jetzt jammere ich ihn auch noch voll. Aber ich kann mir nicht helfen, ich musste es jemandem erzählen und weil nur er hier bei mir ist sage ich es eben ihm. Es macht ihm nichts aus, er versucht mich zu trösten und streicht mit seiner Hand an meiner Wange entlang. Der Schmerz wird übertönt von einem Kribbeln in meinem Bauch. "Du kannst echt süß schauen, weißt du das?" Es ist nur ein Flüstern, aber das macht seine Worte noch tiefgehender, sie treffen mich mitten ins Herz. Er kann doch sowas nicht zu mir sagen, wo er doch so viel älter ist als ich und noch dazu, wo ich gar nichts Besonderes bin. Er kann das einfach nicht ernst meinen! Ich gebe mich ganz dem Gefühl in meinem Bauch hin und schaue in seine unergründlichen Augen, so wie er in meine schaut. Diese Zweisamkeit wird gestört, als es schon wieder an der Tür klopft. Wütend öffne ich sie und würde denjenigen, der uns gestört hat, am liebsten in Stücke reißen, doch als ich sehe, dass es der Heimleiter ist, werde ich ruhig und etwas ängstlich. "Ach was, du öffnest mir endlich mal? Ich wollte nur sagen, dass die Besuchszeit vorüber ist. Sie sollten jetzt gehen." Nein, er sollte nicht gehen! Der Leiter verschwindet wieder und macht sich auf den Weg zu den anderen Türen. Mein Aufmunterer sieht nicht begeistert aus und dann kommen die Worte, die ich nicht sagen dürfte. Sie kommen einfach, ich kann nichts dagegen tun und werde mir darüber erst bewusst, als es schon zu spät ist. "Bitte geh nicht, lass mich jetzt nicht allein!" Er lacht liebevoll und nimmt mich nochmal in die Arme. Dieses Mal drücke ich meinen Kopf an seine Brust, sauge seinen süßen Duft ein und lege meine Arme auf seinen muskulösen Rücken. Es fühlt sich schön an, wenn die Wärme einer anderen Person auf einen selbst übergeht. "Sag das nicht. Das darfst du nicht." Schneller als mir lieb ist lassen wir uns los und der letzte Blick, den er mir zuwirft, ist ernst und beinahe kommt er mir böse vor, wäre da nicht die Sanftheit in seinen Augen. Er stürmt heraus und dann ist da wieder die Stille, mein treuer Begleiter.

Mr. TennisstarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt