Die Falle schnappt zu

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Es war, als hätte die Wucht, mit der Kou Noriko plötzlich gegen das Glas stieß, ihr sämtliche Luft aus den Lungen gepresst. Kaum dass sie sich wieder gefangen hatte, schnappte sie erschrocken nach Luft und sah dem Blonden entgeistert ins Gesicht. „Kou …-kun?“, fragte sie dann eingeschüchtert und versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen, doch es schien zwecklos zu sein, der Druck nahm nur noch weiter zu. 
„Halt’ still … Noriko-chan“, wisperte Kou und der Blick seiner klarblauen Augen huschte unruhig über ihr Gesicht, während er sich ihr langsam näherte. 
Ohne es zu wollen, gehorchte sie ihm. Sie hätte sich ohnehin nicht bewegen können, dafür hielt er sie viel zu fest, und in diesem Moment fesselte sein Blick den ihren so sehr, dass alle Fragen und Proteste sich noch auf ihrer Zunge einfach in Luft auflösten. 
In ihrem Kopf jedoch überschlugen sich die Fragen regelrecht. Was … was hat er vor?, dachte Noriko beinahe panisch und versuchte unwillkürlich, noch weiter vor dem Jungen zurückzuweichen, doch da war nur das Glas … 
Sie sah Kous Mundwinkel amüsiert zucken, doch es war nur eine kurze Regung. „Wie ängstlich du aussiehst“, murmelte er und kam ihr noch näher, überbrückte die letzten paar Zentimeter zwischen ihnen, sodass seine Nasenspitze gegen ihre stieß. 
Will er … hat er etwa vor … ? 
Noriko kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken zu Ende zu führen, denn im nächsten Augenblick streifte seine kühle Wange ganz kurz die ihre, bevor er, sein Mund knapp über ihrer Schulter, für einen Moment innehielt. Sie konnte seinen Atem hören, so nah war er ihr, sie konnte seinen Atem spüren, er war so kalt … Angespannt wie sie war, schloss sie reflexartig die Augen, als seine Kehle ein leises, finsteres Lachen verließ. 
Sie konnte hören, wie er tief einatmete, den Mund öffnete … und dann, im nächsten Moment, verspürte sie einen kurzen, stechenden Schmerz, im Grunde nicht schlimmer als die Nadel einer Spritze, und gleich darauf bemerkte sie eine warme, klebrige Flüssigkeit, die den kurzen Weg ihren Hals hinunterlief und dann in ihren Pullover sickerte. 
Kou wich ein Stück zurück und sah Noriko kurz schelmisch grinsend ins Gesicht. „Wie schade, dass du es nicht sehen kannst, Noriko-chan … es ist wunderschön.“ Kurz leckte er sich mit der Zunge über die Lippen und dann beugte er sich wieder zu ihr hinunter. 
„Wovon sprichst du … ?“, wollte Noriko wie betäubt wissen, dann zuckte sie heftig zusammen, als sie seine kalte Zunge über ihren Hals lecken spürte. Und mit dem Druck, den Kou auf ihre Haut ausübte, kehrte auch der Schmerz zurück, der kurzzeitig schon wieder abgeklungen oder vielleicht auch im Schock untergegangen war. Er hat … hat er … mich etwa gebissen?, fragte Noriko sich benommen und zwang sich, die Augen zu öffnen. Ein … Vampir? 
„ … so gut“, sagte Kou leise und keuchte, dann ließ er noch einmal seine eiskalten Zähne in die Wunde sinken und kurz darauf konnte Noriko deutlich vernehmen, wie er schluckte, immer und immer wieder, sie hörte sein Schlürfen und Schmatzen, sie spürte erneut seine feuchte Zunge, die das heiße, rasch austretende Blut auffing. 
Kou-kun … ist ein Vampir … Noriko konnte nichts weiter sehen als Kous Haarschopf, und zu ihren schmerzenden Handgelenken gesellte sich nun auch dieses ungute Gefühl von seinen Zähnen in ihrem Fleisch, seiner Zunge auf ihrer Haut. 
Dann, mit einem Mal, war es, als tauche Noriko aus einem tiefen, schwarzen Wasser auf. „Kou-kun!“, rief sie in plötzlich aufkommender Panik aus und versuchte, sich loszumachen, doch seine Hände, mit denen er ihre Handgelenke umklammert hielt, bewegten sich kaum einen Zentimeter von dem Glas hinter ihr weg, es gelang ihr nur für einen winzigen Augenblick, ihn ein wenig zu bewegen und gleich darauf presste er sie noch stärker dagegen, ein leises Wimmern verließ ihre Kehle, als er noch fester zupackte. 
So grob sein Griff jedoch auch war, sein leises Lachen war noch immer dasselbe. Und dennoch … der Kou-kun, den Noriko kennengelernt hatte, war etwas anderem, deutlich dunklerem gewichen. „Ah, Noriko-chan“, hauchte er ihr grinsend ins Ohr. „Dein kleines Herz schlägt vor Angst wie verrückt … es lässt dein Blut nur noch mehr sprudeln.“ Genüsslich leckte er noch einmal über die Wunde an ihrem Hals. „Deine Furcht schmeckt so wunderbar, Noriko-chan.“ Und dann wieder seine Zähne, tief unter ihrer Haut. 
„Kou-kun …“, keuchte Noriko verzweifelt und Tränen traten ihr in die Augen. „Hör’ auf damit, ich will das nicht … bitte …“ Sie wusste, er lächelte, während er ihr Blut trank, er trank es in großen, gierigen Schlucken, wie ein Verdurstender. 
„Wie könnte ich jetzt aufhören, Noriko-chan?“, fragte Kou, als er kurz nach Luft schnappte und dann gleich wieder zubiss, dieses Mal an einer anderen Stelle. 
Ein leiser Schmerzenslaut kam über Norikos Lippen, doch zugleich spürte sie, wie das Bewusstsein sie verließ und somit auch der Schmerz in den Hintergrund rückte. Sie spürte nur noch, beinahe überdeutlich, wie der Blonde ihr ihren Lebenssaft entzog, es fühlte sich merkwürdig an, wie ein sehr intensiver, noch viel tiefer reichender Kuss, aber er trank nicht einfach, er saugte richtiggehend aggressiv an der stark blutenden Wunde, er beanspruchte viel zu viel für sich … „Kou-kun …“, bettelte sie leise, dann knickten ihr bereits die Beine ein, doch Kou stellte einfach eines von seinen dazwischen, damit sie nicht noch tiefer sank. 
„Ich will mehr davon, Noriko-chan! Es ist einfach viel zu lange her!“ Seine Stimme war die eines gefräßigen Raubtieres, die eines unersättlichen Monsters, und als er erneut kurz zurückwich, um Norikos Blut für einige Momente beim Fließen zuzusehen, konnte das Mädchen den vom Blutrausch entfachten Wahnsinn in seinen eisblauen Augen sehen. 
Im nächsten Augenblick wurde Noriko für einen Moment schwarz vor Augen, und als sie sie wieder aufschlug, fand sie sich auf seinen Armen wieder, sein Blick war kühl, aber bei weitem nicht mehr so blutlechzend, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sie war nur für ein paar kurze Sekunden bewusstlos gewesen, jedoch war der Duft nach Erde und Blüten etwas anderem, heimeligeren gewichen … Als sie kraftlos ihren über seine Arme hängenden Kopf zur Seite wandte, erkannte sie, dass sie in seinem Zimmer waren. 
Wie hat er so schnell … ? 
Sie schrie erstickt auf, als sie plötzlich auf Kous Bett landete, er hatte sie regelrecht geworfen. Einen Herzschlag später war er schon wieder über ihr, sein Kopf näherte sich erneut ihrem Hals, doch bevor er sie ein drittes Mal beißen konnte, realisierte Noriko, dass sie im Gegensatz zu vorhin dieses Mal beide Hände freihatte, und so krallte sie ihre Finger in Kous Haare und versuchte, den Vampir von sich fortzuschieben. 
Ihre Bemühungen allerdings blieben fruchtlos, entweder war sie selbst bereits zu entkräftet oder Kou einfach übermenschlich stark, er hielt ihr mühelos stand. Nichtsdestotrotz wich er schließlich zurück, richtete sich, auf ihrem Becken hockend, ein wenig auf und musterte das Mädchen süffisant grinsend. „Das hat keinen Zweck, Noriko-chan“, flötete er vergnügt und ehe sie sich versah, hatte er seine Finger auch schon mit ihren verschränkt und ihre Hände zurück auf die gelb gemusterte Tagesdecke gedrückt. Er lehnte sich vor und hielt kurz über ihrem Gesicht inne, dann wandte er sich ihrem Arm zu und zerrte mit den Zähnen ihren Ärmel zurück. „Und nun sieh hin, Noriko-chan“, sagte er leise, dann zog er ihre Hand zu seinem Mund  und versenkte seine Zähne in der weichen weißen Haut ihres Unterarms. 
Dieses Mal war der Schrei, den Noriko ausstieß, lauter, denn es schmerzte noch viel mehr als zuvor, dieses Mal trafen die spitzen Fänge auf den Knochen direkt unter ihrer Haut, sie hörte das leise Knacken, als er ihre Haut durchbrach, sie konnte seine Zähne über den empfindlichen Knochen schaben hören … es schmerzte so sehr. „Kou-kun …“, bettelte sie gepeinigt. „Du tust mir weh …“ Eine Träne fand ihren Weg über ihre Wange. 
Noch immer konnte sie kaum fassen, dass Kou ein Vampir sein sollte. War das möglich? Existierten Vampire denn nicht nur in Büchern und Filmen? Doch das hier … war real … so schrecklich real. Kou war kein gewöhnlicher Mensch … seine übermenschliche Stärke, sein plötzliches Auftauchen und natürlich seine messerscharfen Reißzähne … er war kein Mensch. Kein gewöhnlicher Mensch konnte mit seinen Eckzähnen so zubeißen, als wollte er präzise Löcher stanzen. Kein gewöhnlicher Mensch konnte so stark sein, dass man nicht im Geringsten gegen ihn ankam … nicht, wenn er relativ zierlich wirkte, so wie Kou. 
„Kou-kun“, hauchte Noriko leise und neigte ihren Kopf zur Seite, sah dem blonden Jungen mit tränennassen Augen dabei zu, wie er genießerisch seufzend ihr Blut in sich aufnahm, ohne Rücksicht, immer mehr, ohne Grenzen, nur noch mehr … „Bist du … ein Vampir?“ Sicherlich war ihr die Antwort bereits klar, noch viel deutlicher hätten die Umstände wohl kaum sein können, doch sie wollte es aus seinem Mund hören … 
Da hielt Kou inne und brachte sein Gesicht wieder ganz nah an ihres, erneut konnte sie die kühle Spitze seiner Nase an ihrer spüren. Er leckte sich kurz über die Lippen, dann grinste er spitzbübisch, seine Zähne blitzten auf, einschließlich der beiden spitzen Eckzähne, die Noriko zuvor nie aufgefallen waren … „Das bleibt unser kleines Geheimnis, in Ordnung, Noriko-chan?“, fragte er dann und nickte ihr kurz zu, plötzlich klang er wieder so fröhlich wie sonst auch, doch Noriko wusste nun, der Schein trog so sehr … 
Endlich, endlich stieg er von ihrem Körper und ließ sich neben sie aufs Bett sinken, verschränkte einfach so die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen, als ob nichts geschehen wäre, ja, sogar ein friedliches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. 
Noriko spürte ihr Herz gegen ihren Rippenkasten hämmern und sie begann zu zittern, vielleicht setzte nun der Schock ein, sie wusste es nicht. Ihr war nur so schrecklich kalt. Langsam tastete sie mit der rechten Hand nach ihrem Hals, deutlich spürte sie die beiden Löcher, die Kou hinterlassen hatte, doch als sie ihre Finger in Augenschein nahm, war dort kein Blut. Auch die Wunde an ihrem Handgelenk sah … sauber aus. Vorsichtig setzte sie sich auf, doch kaum, dass sie sich in einer senkrechten Position befand, wurde ihr schwindlig und ihr Kopf begann zu schmerzen. Es war, als schrillten überall in ihrem Körper Alarmglocken. Benommen fasste sie sich an den Kopf, dann versuchte sie aufzustehen, doch es half nichts. Gegen ihren Willen plumpste sie schwer wieder auf das weiche Bett zurück und musste dort sitzenbleiben, an Laufen war im Augenblick nicht zu denken.
Sie sah noch einmal zu Kou. „Warum … warum, Kou-kun?“, wollte sie mit in Tränen schwimmenden Augen wissen. Ihre Stimme klang dünn und kraftlos. 
Der Blonde wandte den Kopf zur Seite und musterte sie, sagte aber nichts. Dann, schließlich, richtete er sich ruckartig auf und blieb mit auf die Bettdecke aufgestützten Armen sitzen. „Hey, hör’ mal, Noriko-chan“, sagte er dann plötzlich und Noriko ahnte bereits, dass er ihre Frage gezielt ignorieren und nicht mehr darauf eingehen würde. „Du musst müde sein. Was hältst du davon, wenn du heute hier übernachtest?“
Noriko spürte, wie ihr Herz erneut heftig zu schlagen begann vor Furcht, es fühlte sich dumpf an, beinahe schmerzhaft. Doch dann begann sie sich zu fragen, ob es nicht vielleicht besser war, ihm erst einmal zu gehorchen, zumal sie sich ohnehin in einem absolut erbärmlichen Zustand befand. Aber was … wenn er mich noch einmal beißt? Sie zögerte und sah Kou ängstlich an. Und sie sah nur den Jungen, den sie am vergangenen Tag kennengelernt hatte … diesen fröhlichen, hübschen Jungen, der beinahe immer lächelte. Wie viel davon war gespielt? Wie viel davon steckt in dem, der er wirklich ist? Ist er nicht vielleicht sogar der Kou-kun, den ich kennengelernt habe? 
„Was ist, Noriko-chan?“, hakte der Blonde freundlich nach. 
Lügen, dachte Noriko. Alles Lügen. Es kostete sie viel Überwindung, bis sie schließlich zaghaft nicken konnte. Doch im nächsten Augenblick brachte sie es schon nicht mehr fertig, sich einfach so geschlagen zu geben. „Aber … meine Eltern warten zu Hause auf mich“, wandte sie leise ein. 
Kou legte lächelnd den Kopf schief und für einen Moment schöpfte Noriko bereits Hoffnung. „Wenn das so ist …“, sagte der Blonde verständnisvoll, „ … dann rufst du sie besser gleich an und sagst ihnen Bescheid.“ Mit diesen Worten hielt er ihr sein Handy hin. 
Noriko schluckte. Offensichtlich gab es kein Entkommen. Also würde sie es mit Plan A versuchen. Mitspielen. „I-ich nehme mein eigenes Handy“, stotterte Noriko eilig und nahm besagtes Mobiltelefon zur Hand. Als sie ihren Pin eingegeben hatte, zögerte sie. Die Polizei konnte sie nicht rufen, Kou würde ihr sicherlich nicht erlauben, alleine zu telefonieren, aber sie konnte ihren Eltern schreiben … Sie zuckte mit einem leisen Schreckenslaut zurück, als sie bemerkte, dass Kou mit einem Mal direkt neben ihr saß und so einen guten Blick auf das Display ihres Handys hatte. Unauffällig hielt Noriko es etwas höher, doch da schoss plötzlich Kou Hand hervor und hielt das Telefon fest. 
„Was hast du vor, Noriko-chan?“ Seine Stimme klang so unschuldig wie immer, sein Lächeln war so freundlich wie immer, aber sein Blick war hart wie Stahl.
„Ich … nichts“, stammelte Noriko hastig und schrieb ihrer Mutter dann eine SMS. Nie und nimmer hätte sie es in ihrem Zustand geschafft, ein normales Telefongespräch zu führen, dafür zitterte ihre Stimme viel zu sehr. Sie schrieb kurz und bündig, dass sie bei Ayumi übernachten würde. Sie dachte daran, dass sie ihrer Mutter am Morgen auch gesagt hatte, dass sie sich mit ihrer Freundin treffen würde … Norikos Reue dahingehend kannte kaum Grenzen. 
„Also dann“, meinte Kou plötzlich und klatschte in die Hände, sodass Noriko erschrocken zusammenzuckte, was der Blonde allerdings nicht zu bemerken schien. „Du musst hungrig sein, Noriko-chan“, sagte er. „Ich werde dir etwas zu essen holen.“ Er stand auf und schlenderte lässig zur Tür. „Warte nur eben kurz hier, okay?“
Noriko zuckte erneut zusammen, als die Tür hinter Kou ins Schloss fiel. Was jetzt? Was mache ich nur?, fragte sie sich panisch, dann stand sie auf und zwang sich mit aller Macht dazu, stehenzubleiben. Sie konnte unmöglich bei einem solchen Psychopathen bleiben, geschweige denn mit ihm im selben Haus schlafen. Völlig unmöglich. Okay, okay. Ganz ruhig, betete sie sich selbst vor, dann taumelte sie zur Tür und drückte die Klinke nach unten, trat in den Flur. Ich muss hier nur raus … es ist nicht mehr weit … Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, als sie durch den Flur bis zur Treppe stolperte. Als sie jedoch eine Hand auf das Geländer legte, bemerkte sie eine Gestalt, die am Fuße der Treppe stand, ein Junge, um genau zu sein, ein Junge mit dunklen Haaren und einem trüben, dunklen Blick … Erschrocken keuchte Noriko auf und wich ein Stück zurück. 
Der Junge sah verwundert zu ihr auf. „Hey …“, sagte er dann träge, doch ehe er weitersprechen konnte, hatte Noriko sich bereits umgewandt und war zurück in Kous Zimmer gelaufen, lautstark zog sie die Tür hinter sich ins Schloss. 
Noriko keuchte und ließ sich mit dem Rücken wieder gegen die Tür sinken. Warum? Warum? Warum bin ich nicht einfach gelaufen? Warum bin ich wieder … hier … ? Warum? Warum passiert das alles? Kraftlos sank sie an der Tür herunter und legte das Gesicht auf ihren Knien ab. Ein trockenes Schluchzen verließ ihre Kehle. 
Sie schreckte auf, als sie die Klinke hörte und den Druck der Tür in ihrem Rücken spürte. 
„Noriko-chan?“, hörte sie Kou von der anderen Seite der Tür verwundert fragen. 
Eilig rappelte Noriko sich auf und wäre beinahe hingefallen, doch sie fing sich noch und lief eilig zum Bett hinüber, blieb dort stehen und wandte sich zu Kou um. 
Als Kou eintrat, zierte sein Gesicht wie immer ein Lächeln, als er jedoch den Blick hob, erlosch es langsam. „Warum weinst du denn, Noriko-chan?“, wollte er stutzig wissen. 
Noriko schluckte. „Das … ich … äh …“ Sie fand nicht die richtigen Worte. 
Kou, der mit einer Hand einen Teller balancierte, kam auf sie zu und ehe Noriko zurückweichen konnte, hatte er die linke Hand gehoben und ihr die Tränen von den Wangen gewischt. „Weinen steht dir nicht, Noriko-chan“, sagte er dabei fröhlich. 
Noriko spürte eine sehr hinterhältige Gänsehaut ihr Rückgrat hinaufkriechen, vermutlich war es die Erkenntnis, dass sie mit einem offensichtlich Geisteskranken in einem Zimmer festsaß.  Aber gut … noch hat er mir nichts weiter getan … 
„Hier, Noriko-chan“, sagte Kou nun und stellte den Teller auf dem Boden ab, dann setzte er sich ebenfalls auf den Boden und bedeutete seinem Gast, es ihm gleichzutun. „Das ist meine Wiedergutmachung dafür, dass ich mir dein Blut genommen habe.“ Er grinste sie offen an. „Und damit du schnell wieder zu Kräften kommst“, setzte er noch hinzu. 
Noch einmal schluckte Noriko, dann kam sie der Aufforderung nach und setzte sich ebenfalls hin. Es half ja alles nichts, gerade für den Fall, dass Kou sie nicht gehen lassen wollte, war es doch besser, so viel zu essen wie nur möglich, um den Blutverlust schnell auszugleichen. 
Während sie also zaghaft zu essen begann, warf sie immer wieder unruhig einen Blick zu Kou, der sie wiederum seelenruhig beim Essen beobachtete. Wiedergutmachung, hat er gesagt, wiederholte sie in ihrem Kopf. Ist es in seinen Augen eine Entschuldigung? Oder eine Bezahlung? Ist es das für ihn? Eine Art … Geschäft? … Ich meine … klar. Auch Blut ist ein Handelsgut. Aber er hat mich mit keinem Wort gefragt. Was ich gefühlt habe, hat ihn nicht gekümmert … Sie hielt für einen Moment inne. Ihre Gedanken ratterten. Aber auf der anderen Seite … wie dringend brauchen Vampire Blut? Und wie oft kommen sie an welches? Vielleicht ist Kou wirklich schrecklich ausgehungert gewesen … und … wenn er mich vorhin tatsächlich gefragt hätte … hätte ich ihm dann etwa zugestimmt? Nachdenklich drehte sie eine Olive hin und her. Wahrscheinlich nicht … 
„Stimmt etwas nicht, Noriko-chan?“, fragte Kou verwundert. 
Noriko hob überrascht den Blick. „Nein, nein, alles okay“, versicherte sie ihm hastig und aß weiter. Wie kann er mir diese Frage stellen, nach allem, was er mit mir getan hat? Und wie er gefragt hat … als ob überhaupt nicht verstünde, was in mir vorgeht … als ob ihm jegliche Empathie fehlen würde … Noch einmal musterte sie den Blonden prüfend. Na ja … vielleicht ist es ja so. Er ist kein Mensch, oder? Also … vielleicht versteht er wirklich nicht, wie ein Mensch denkt … Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Trotzdem. Versuche ich etwa gerade, mir sein Verhalten zu erklären? Am Ende ist er vielleicht doch einfach nur krank … ein Psychopath oder so. Ich muss ihn nicht verstehen. Ich sollte mich nur von ihm fernhalten, so wie ich es von Anfang an wollte … dummerweise hänge ich hier scheinbar bis auf Weiteres fest. Was hat er vor?
„Dir geht gerade viel im Kopf herum, nicht wahr, Noriko-chan?“, fragte Kou neugierig und beugte sich ein wenig nach vorne, um Norikos Blick wieder einzufangen. 
Schnell richtete Noriko sich wieder auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sie erneut in ihren Grübeleien versunken war. Aber sie war so müde … vollkommen erschöpft. Sie zuckte zurück, als Kou ihr plötzlich ein Stück Tomate hinhielt, als wollte er sie füttern. Irritiert suchte sie seinen Blick. Er sagte nichts, doch sein Blick war eine einzige Aufforderung. 
Okay … ich spiele mit, rief sie sich noch einmal ins Gedächtnis. Solange er nichts Abstoßendes von mir verlangt, kann es mir ja eigentlich auch egal sein … Dennoch spürte sie nach wie vor ein ungutes Gefühl in ihrer Magengegend, als sie ihre Lippen um das Gemüse schloss und es ihm so aus der Hand nahm. Eigentlich wäre er ja sogar ziemlich süß … aber das vorhin … er ist ein Vampir. Sie schluckte. Es war, als könne sie noch immer seine im Blutrausch glänzenden Augen vor sich sehen, seine im Wahnsinn verzerrte Stimme hören, sein Schlucken, sein leises Seufzen, als er von ihrem Blut gekostet hatte …
Als Noriko fertig war mit dem Essen, stand Kou auf und nahm den leeren Teller zur Hand, ging damit zur Tür, sah jedoch noch einmal über die Schulter zurück. „Du musst müde sein, Noriko-chan“, meinte er dann beinahe fürsorglich. „Magst du schlafen gehen?“
Noriko nickte zaghaft. „Ja, bitte“, fügte sie leise hinzu. 
„Na dann“, meinte Kou fröhlich. „Ich bringe den Teller nach unten und du kannst dich schon mal hinlegen. Bis gleich.“ Er zwinkerte ihr noch einmal fröhlich zu, dann schloss sich die Tür. 
Noriko blieb wie vor den Kopf geschlagen zurück. Sollte sie etwa … ? Ihr Blick glitt ungläubig zu dem gelb bezogenen Bett. Doch dann seufzte sie resigniert. Ist doch jetzt auch egal … schlimmer kann’s doch eigentlich gar nicht mehr kommen. Mit diesem Gedanken ließ sie sich schwer auf Kous Bett fallen und vergrub ihr Gesicht in der weichen Bettwäsche. Kous Duft haftete daran und obwohl Noriko sich vor dem Jungen fürchtete, störte sie der Geruch nicht. Oh je … wo habe ich mich da nur reingeritten?, dachte sie verzweifelt und schlüpfte schließlich einfach unter die schwere Bettdecke. Sie war so schrecklich müde … 
Tatsächlich musste sie für einige Minuten eingedöst sein, denn sie wurde erst wieder wach, als die Matratze unter Kous Gewicht nachgab, als er sich neben sie legte. Verwirrt blinzelte sie in die Dunkelheit hinein, die nur von der Nachttischlampe durchbrochen wurde. 
„Oh, habe ich dich geweckt, Noriko-chan?“, fragte Kou leise und kicherte, dann machte er das Licht aus und legte sich neben Noriko, das Gesicht ihr zugewandt. 
Noriko konnte seinen kühlen Atem spüren und auch seine bloße Anwesenheit, allein die Nähe zu ihm ließ sie sich verspannen. Und das hatte nichts damit zu tun, dass er nicht mehr als seine Hose trug. Noch nie zuvor hatte sie sich mit einem Jungen ein Bett geteilt und sie hatte es sich auch niemals so vorgestellt. Das hier war einfach nur verrückt, und in Anbetracht der Umstände womöglich sogar gefährlich. 
„Gute Nacht, Noriko-chan“, flüsterte Kou in die Stille hinein und dann schloss er die Augen. 
„Gute Nacht“, erwiderte Noriko halbherzig und betrachtete noch kurz Kous Gesicht, dann drehte sie sich möglichst vorsichtig um und starrte an die Wand. 
Wie hätte sie jetzt noch schlafen können?
Ihre Gedanken schlugen regelrechte Purzelbäume, doch kein einziger davon hielt sich lange genug, um im Kopf des Mädchens die Gestalt eines Wortes oder gar eines Satzes anzunehmen. Es waren Norikos Gefühle, die verrücktspielten, und das leider überhaupt nicht so, wie sie es sich eigentlich – unter anderen Umständen – gewünscht hätte. Diese Gefühle, die in ihr gerade die Oberhand hatten, trugen die Namen Angst und Verzweiflung. 

Sedutive ScentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt