"Nur für dich"

579 14 0
                                    

Als Noriko am Freitag von der Arbeit nach Hause kam, ließ sie sich, kaum dass sie in ihrem Zimmer war, mit einem lauten Seufzen auf ihr Bett fallen, nestelte ihr Handy aus der Hosentasche und steckte sich die Kopfhörer in die Ohren, um ihrer Musik zu lauschen. Endlich hatte sie das Jahr geschafft, zumindest was Schule und Job anging.
Erschöpft schloss sie die Augen und atmete tief durch. Am liebsten wollte sie einfach nur noch schlafen, aber es war ja gerade mal früher Nachmittag. Nein, sie wollte sich nicht einfach so einen vollkommen ungesunden Schlafrhythmus angewöhnen.
Und so setzte sie sich wieder auf. Ihr Magen knurrte. Sie hatte schon seit dem vergangenen Abend nichts mehr zu sich genommen. Noriko stand auf und lief in die Küche hinunter, kramte eine Tiefkühlpizza aus dem Frostfach. Der Lebensretter Nummer eins, dachte das Mädchen mit einem Grinsen und stellte den Ofen an.
Während sie wartete, hörte sie weiterhin Musik und blickte gelangweilt auf die Uhr. Sie war nicht der Typ, der viel ausging, aber jetzt, wo ihre Eltern ihr Hausarrest erteilt hatten, kam ihr plötzlich alles öde vor, was sie in ihren eigenen vier Wänden noch hätte tun können. Natürlich, dachte Noriko sich im Stillen. Weil man ja immer irgendwie das haben und tun will, was man nicht haben oder tun kann.
Sie fuhr erschrocken zusammen, als plötzlich ihr Handy vibrierte. Daran würde sie sich wohl nie gewöhnen. Verwundert nahm sie das Mobiltelefon zur Hand und sah auf das Display. Als sie sah, wer sie anrief, ging sie sofort ran. „Kou-kun?“, fragte sie verwundert.
„Hallo, Noriko-chan“, flötete Kou am anderen Ende der Leitung und Noriko musste grinsen.
Am Dienstag der vergangenen Woche hatten sie endlich ihre Telefonnummern ausgetauscht, um einander anrufen und Nachrichten schreiben zu können. Immerhin hatten sie sich außerhalb der Schule sonst nicht sehen können und dabei wollten sie sich im Augenblick doch eigentlich so nahe wie möglich sein. Aber der Hausarrest würde erst am Sonntag wieder aufgehoben sein. Und so lange wollte Noriko sich möglichst unauffällig verhalten.
Sie spürte, wie es in ihrem Bauch kribbelte, als sie Kous vergnügte Stimme hörte, wenn auch ein wenig verzerrt durch die Lautsprecher. Allmählich fühlt es sich wirklich an, als wären wir richtig zusammen, dachte sie glücklich. Auch wenn davon nie die Rede war … Aber hey, wenn wir kein Paar sind, was denn dann?, fragte sie sich erheitert und musste sich kurz auf die Lippe beißen, um ihre Ernsthaftigkeit zurückzugewinnen. „Was gibt’s?“, wollte sie schließlich grinsend wissen.
„Ich wollte natürlich deine Stimme hören, Noriko-chan“, sagte Kou, als hätte sie etwas sehr Dummes gefragt. „Immerhin können wir uns jetzt auch nicht mehr in der Schule treffen.“
Noriko lächelte und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Küchenzeile. „Ab Sonntag darf ich wieder was unternehmen, bis dahin musst du dich leider noch gedulden.“
„Hm“, machte Kou nur schmollend. Doch dann fand er seinen Frohsinn rasch wieder. „Und was wirst du dann noch so machen, heute und morgen?“
Noriko stieß ein wenig ratlos die Luft aus ihren Lungen. „Keine Ahnung. Ein wenig faulenzen, schätze ich. Ansonsten wird das Wochenende ziemlich öde, wo ich doch nicht raus darf. Meine Eltern sind außerdem sowohl heute als auch morgen beide arbeiten.“
„Wer muss denn an Weihnachten arbeiten?“, fragte Kou verblüfft.
Noriko lachte über diese beinahe kindliche Frage. „Na ja, einige, schätze ich. Krankenpfleger, Polizisten, Feuerwehrleute …“ Sie zuckte mit den Schulter, obwohl Kou es nicht sehen konnte. „Alle, die man auch an Weihnachten nicht entbehren kann.“
„Oh“, machte Kou bloß.
Einen kurzen Augenblick herrschte Ruhe, dann hörte Noriko etwas rascheln, sie vermutete, dass es die Bettdecke war und dass Kou sich gerade entweder auf den Rücken oder auf den Bauch gedreht hatte. Eine Vorstellung, die sie schmunzeln ließ.
„Also“, meinte Kou dann gedehnt. „Was hältst du dann davon, wenn wir beide uns treffen?“
Ein Lächeln huschte über Norikos Gesicht. „Du hast einen schlechten Einfluss auf mich“, meinte sie dann nur kopfschüttelnd. „Aber … gern“, willigte sie dann glücklich ein.
„Alles klar, ich hole dich ab.“
„Huh?“, machte Noriko noch, aber Kou hatte schon aufgelegt. „Äh …“ Noriko starrte verblüfft auf ihr Handydisplay. Dann musste sie grinsen und fragte sich, ob Kou gleich noch einmal anrufen würde, weil er gar nicht wusste, wo sie wohnte.
Aber … sie täuschte sich.
Als es an der Türe klingelte, war es Kou, der breit lächelnd davor stand.
Noriko runzelte nur irritiert die Stirn. „Woher zum Geier weißt du bitte, wo ich wohne?“, wollte sie skeptisch, jedes Wort einzeln betonend, wissen. Sie hatte es ihm nie gesagt. Natürlich ließ sie ihn aber trotzdem in die Wohnung.
„Vielleicht kann ich dich ja spüren“, meinte Kou nur geheimnisvoll.
„Du hast mir hinterherspioniert“, kombinierte Noriko trocken.
„Wer weiß?“
Noriko seufzte. „Meine Güte“, murmelte sie nur und griff dann nach Kous Ärmel, zog ihn einfach mit sich in die Küche. „Hast du auch Hunger? Ich teile meine Pizza mit dir.“
„Hm“, machte Kou, als müsste er nachdenken. „Wie wäre es, wenn du deine Pizza alleine isst und stattdessen etwas anderes mit mir teilst?“, schlug er ihr dann spitzbübisch grinsend vor.
Noriko lachte leise. „Mal sehen“, meinte sie dann und gab Kou nun einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Später vielleicht. Wenn ich Lust dazu hab’“, fügte sie frech grinsend hinzu und zog das Blech mit der Pizza aus dem Backofen, stellte sie ab und legte die Topflappen weg.
„Ich werde dafür sorgen, dass du Lust dazu hast“, versicherte Kou ihr mit einem unmissverständlich dunklen Unterton und hauchte Noriko einen Kuss in den Nacken.
„Kou-kun“, tadelte Noriko ihn mit rauer Stimme, als ihr ganz unwillkürlich eine Gänsehaut über den Körper jagte. „Nicht jetzt.“ Sie griff nach dem Pizzaschneider und zerlegte ihr Mittagessen in acht Teile. „Du kriegst trotzdem was ab, eine ganze Pizza würde ich eh nicht schaffen“, erklärte sie und legte zwei Stücke auf einen Teller.
Kou grinste und zog einen der Küchenstühle zu sich. „Dann werde ich sicher nicht nein sagen“, meinte er fröhlich und nahm seinen Teller entgegen.
Noriko setzte sich zu ihm und sah ihm unauffällig beim Essen zu. Noch immer war es merkwürdig, mit ihm an einem Tisch zu sitzen, mit ihm zu essen. Ihre Beziehung zueinander war immerhin alles andere als gewöhnlich … und sie hatte etliche Höhen und Tiefen gehabt.
Zu Beginn war ihr Verhältnis zueinander immer so angespannt gewesen, vor allem war es natürlich Noriko gewesen, die sich in seiner Nähe unwohl gefühlt und sich schließlich sogar vor ihm gefürchtet hatte. Später hatte Kou sie ohne jedes Mitleid oder Verständnis in Situationen gezwungen, die sich angefühlt hatten wie Topfschlagen auf einem Minenfeld.
Diese unbehaglichen Situationen, die von jedem einzelnen Wort zum Kippen gebracht werden konnten, in denen Noriko nie gewusst hatte, was zu sagen war.
Und jetzt?, fragte sie sich nachdenklich. Was ist jetzt? Kann ich ihm vertrauen? Ist das mit uns beiden wirklich das, was ich mir einbilde? Oder habe ich mit der Zeit nur gelernt, den Minen auszuweichen?
Sicherlich hatte sie sich ihm angepasst, sie versuchte, sein Handeln nachzuvollziehen, sein Verhalten. Sie versuchte, ihm im Rahmen des Möglichen alles rechtzumachen und nichts Falsches zu sagen. Doch war die Harmonie Realität oder Illusion?
Innerlich schüttelte Noriko den Kopf. Ich sollte aufhören, mir darüber solche Gedanken zu machen. Ich liebe ihn. Das ist alles, was zählt.
Als sie fertig waren und Noriko die Teller in den Spüler gestellt hatte, sah sie Kou an. „Und, was machen wir jetzt?“, wollte sie wissen und legte ihre Arme auf der Stuhllehne ab.
„Wir könnten doch wieder zu mir nach Hause gehen“, schlug Kou ohne Zögern vor und stand auf, ging auf Noriko zu und stahl sich einen kurzen Kuss von ihr.
Das Mädchen jedoch seufzte nur. „Kou-kun, ich hab’ doch Hausarrest.“
„Dann frag’ deine Eltern doch, ob sie eine Ausnahme machen können“, sagte Kou. „Es ist schließlich Weihnachten und es wäre doch ziemlich unfair, dich hier alleine einzusperren.“
„Hm“, machte Noriko und nahm schließlich ihr Handy hervor. „Gutes Argument.“ Und so tippte sie ihrer Mutter beinahe wortgetreu, was Kou eben gesagt hatte. Nur dass sie wieder einmal vorgab, bei Ayumi übernachten zu wollen.
Als sie die Nachricht abgeschickt hatte und den Blick wieder hob, stand Kou noch immer vor ihr, drängte sie noch ein wenig weiter zurück, stützte sich links und recht von ihr an der Arbeitsplatte ab und ehe Noriko reagieren konnte, hatte er sie einfach hochgehoben, genau wie damals im Badezimmer, genau wie auf dieser Mauer.
„Noriko-chan“, hauchte Kou dann leise und strich sanft mit dem Zeigefinger über Norikos Hals hinauf zu ihrem Ohr, während seine andere Hand sich auf ihren Oberschenkel legte.
Deutlich konnte Noriko spüren, wie die Berührung sie erschaudern ließ. Und auch, als Kous Hand über ihr Bein strich, konnte sie nicht anders, als erneut leise zu seufzen vor Wonne. Und dabei trug sie dieses Mal sogar eine Jeans, doch der Stoff schützte sie nicht im Geringsten, nein, vielmehr verstärkte er ihr Verlangen noch weiter.
Kou lachte leise und zog ihren Kopf vorsichtig zu sich hinunter. „Ich liebe diese Geräusche, die du machst, wenn ich dich berühre“, wisperte er mit verzückter Stimme und ersparte Noriko eine Antwort, indem er einfach ihre Lippen mit seinen versiegelte.
Noriko ließ sich mitreißen, ohne Zögern. Jedes Mal, wenn ihre Lippen aufeinandertrafen, fühlte es sich an, als würde sie fallen, schweben. Es war so unbeschreiblich und jeder Kuss belebte dieses Gefühl wieder … immer und immer wieder.
Sie hielten inne, als Norikos Handy, das neben ihr auf dem Tresen lag, vibrierte. Kou gab ihr noch einen kurzen Kuss, dann griff Noriko nach ihrem Telefon. Kurz überflog sie die Antwort ihrer Mutter, dann stieß sie ein freudiges Jauchzen aus. „Ein Glück“, sagte sie fröhlich. „Meine Mutter hat mir geschrieben, dass es okay ist, wenn ich über Nacht wegbleibe.“
Kou grinste und seine Hand wanderte von Norikos Schulter erneut zu ihrem Hals hin. „Du willst also heute bei mir schlafen, ja?“, fragte er, während er das Mädchen geradezu spielend leicht dazu brachte, genießerisch den Kopf in den Nacken zu legen und somit ihre ungeschützte Kehle bloßzulegen.
Doch auch wenn er sie beinahe verrückt machte, grinste Noriko. „Ich kann dein Zimmer ja inzwischen beinahe als mein zweites zu Hause ansehen“, scherzte sie, doch dann sah sie Kou wieder an. „Es sei denn natürlich, ich störe irgendwie“, fügte sie ernst hinzu.
Nun war es an Kou, zu grinsen. „Du störst doch nicht, Noriko-chan“, sagte er und legte seine Hand um ihr Kinn, sodass sie sich ihm nicht entziehen konnte. Er lächelte vergnügt, als er bemerkte, wie sein Blick sie fesselte, und so zog er sie noch einmal zu sich und küsste sie. „Dann lass’ uns keine Zeit verlieren, in Ordnung, Noriko-chan?“, meinte er dann leise. „Gehen wir.“ Mit diesen Worten nahm er ihre Hand und zog sie zu sich zurück auf den Boden.
„Du bist witzig“, sagte Noriko trocken, als sie vor ihm stand. „Meine Beine fühlen sich schon wieder an wie Wackelpudding“, gestand sie ihm ohne Umschweife.
Kou grinste nur. „Dann sollte ich dich vielleicht wieder tragen, nicht wahr, Noriko-chan?“
„Es geht schon“, behauptete Noriko keine Sekunde später wie aus der Pistole geschossen und ging zurück in den Flur, zog dort Stiefel und Jacke an. Auch ihren Schal nahm sie mit.
Kou grinste nur und lehnte sich abwartend in den Türrahmen.
„Gehen wir zu Fuß?“, fragte Noriko, nachdem sie den Hausschlüssel eingesteckt hatte.
„Zu Fuß? Aber das ist ein ganz schön weiter Weg“, meinte Kou verwundert.
„Das macht mir nichts aus“, erwiderte Noriko lächelnd. „Ich habe mir schon lange nicht mehr richtig die Beine vertreten und außerdem haben wir so viel Zeit zum Reden.“ Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, doch der Wind wehte sie sofort wieder nach vorne.
„Wenn du meinst, Noriko-chan“, sagte Kou bloß fröhlich und folgte Noriko. „Worüber möchtest du denn reden?“, wollte er dann neugierig wissen.
„Über dich“, antwortete Noriko ohne Umschweife.
„Mich?“, fragte Kou verwundert.
Noriko nickte. „Ich will dich endlich richtig kennenlernen, verstehst du? Ich will alles über dich wissen … und das soll jetzt nicht komisch klingen.“
„Hm“, machte Kou nachdenklich. „So komisch klingt das gar nicht.“
Noriko lachte. „Okay … fangen wir doch einfach mal mit der Schule an. Was ist dein Lieblingsfach?“ Noch während sie das fragte, überlegte sie, was zu Kou wohl passen könnte.
Kou blies ein wenig ratlos seine Wangen auf. „Musik, Sport … solche Dinge“, sagte er schließlich. „Bio ist auch in Ordnung. Was ist mit dir, Noriko-chan?“
„Ich mag Geschichte am meisten“, sagte Noriko, doch in Gedanken war sie noch dabei, sich Kou beim Sportunterricht vorzustellen. Sicherlich war sein eher zierlicher Körperbau ein großer Vorteil, wenn es um Schnelligkeit und Agilität ging, gepaart mit seiner übermenschlichen Kraft … An einige andere Dinge wollte sie erst gar nicht denken. Doch schon im nächsten Augenblick war es zu spät, sie spürte, wie sie rot wurde.
Als Kou plötzlich innehielt, blieb auch Noriko stehen und sah fragend in seine Richtung, doch Kou hatte nur Augen für eine weiße Katze mit schwarzen und braunen Flecken in verschiedenen Abstufungen, die eben zu ihnen auf den Bordstein gelaufen war.
Es war ein schönes, schlankes und vermutlich auch noch recht junges Tier, und die Bunte hielt ebenfalls inne, sah die beiden Menschen neugierig an. Als Kou in die Hocke ging, kam sie leise maunzend näher und stupste zutraulich Kous Hand an.
Noriko lächelte. Sie wusste, dass diese Katze ganz besonders verschmust war, sie war in der ganzen Nachbarschaft vor allem bei den Kindern sehr beliebt.
„Aw, Noriko-chan, ich liebe Katzen“, sagte Kou da voller Begeisterung und als Noriko sich neben ihn hockte, sah sie das geradezu selige Lächeln auf seinem Gesicht, ein Anblick, der sie selbst ebenfalls mit Glück erfüllte. Der Blonde wirkte wie ein Kind an Weihnachten und schien kaum an sich halten zu können, als die bunt Gescheckte zuerst ihre Lefzen an seiner Hand rieb und sich anschließend voller Wonne auf den von der Sonne aufgewärmten Asphalt warf, sich auf den Rücken rollte und mit einer ihrer schwarz gefleckten Tatzen verspielt nach Kous Hand schlug, der giftgrüne Blick war eine einzige Aufforderung.
„Ich mag Katzen auch“, sagte Noriko und berührte den weißen Bauch der Katze, streichelte sanft das weiche Fell. „Und vor allem diese hier ist total lieb.“
„Ich habe früher oft mit Katzen gespielt“, sagte Kou leise und kraulte die Bunte sanft unter dem Kinn, was diese mit einem freudigen Schnurren quittierte. „Sie sind wunderschöne und faszinierende Tiere und obwohl sie ihren eigenen Kopf haben, sind sie gute Freunde.“
Wie du, hm, Kou-kun?, schoss es Noriko durch den Kopf und sie musste wieder grinsen, allmählich begannen ihre Wangen davon schon zu schmerzen. „Warum habt ihr denn in eurer Villa keine Katzen?“, wollte Noriko dann verwundert wissen und lachte, als die Katze sich verspielt in ihre Hand krallte.
„Ich weiß nicht“, sagte Kou und zuckte mit den Schultern. „Ruki-kun würde es wahrscheinlich nicht erlauben und Yuma-kun wäre auch nicht so erfreut, schätze ich.“ Auch Kou kicherte, als das Kätzchen sich voll Wonne über den warmen Boden rollte und nach mehr Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten gierte.
„Kou-kun“, sagte Noriko da leise. „Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?“
„Huh? … Sicher, Noriko-chan“, nickte Kou sofort.
„Wo … wo kommt ihr eigentlich her? Du und deine Brüder. Wo sind eure Eltern? Und … wie passen die Narben da rein, deine Narben und die von Azusa-kun?“
Kou zögerte einen Moment, das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, jedoch wirkte er eher melancholisch als vorwurfsvoll. „Das ist eine lange Geschichte“, sagte er schließlich und stand wieder auf, steckte die Hände in Taschen seiner Jacke. Sein Lächeln kehrte wieder, als die Bunte sich aufrappelte und ihm vertrauensvoll um die Beine strich.
„Willst … willst du sie mir nicht erzählen?“, fragte Noriko schüchtern. „Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst. Ich will keine traurigen Erinnerungen wecken oder … na ja, im Grunde geht es mich ja nichts an.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht hätte ich besser die Klappe halten sollen …
„Ach“, meinte Kou jedoch nur leichthin. „So traurig sind sie gar nicht“, erklärte er, plötzlich wieder gut gelaunt, und bedeutete Noriko, dass sie ihren Weg fortsetzen sollten. „Diese Narben erzählen die Geschichte eines kleinen Jungen, der seinen Weg aus der Einsamkeit und der Finsternis in ein neues, besseres Leben gefunden hat.“
„Was meinst du mit Einsamkeit und Finsternis?“, wollte Noriko leise wissen. „Du hast auch von Armut, Elend und Kälte gesprochen, damals im Badezimmer, meine ich.“
Einen Moment lang sah Kou Noriko überrascht an, dann lachte er. „Ah ja, richtig“, meinte er fröhlich. „Wir … wir sind Waisenkinder. Wir alle vier. Wir haben auf der Straße gelebt, eine ganze Zeit lang. Wir alle tragen unsere Narben … aber …“ Seinen betrübten Worten zum Trotz erhellte noch immer ein Lächeln sein Gesicht, ließ seine Augen strahlen. „Wir sind dieser Zeit entkommen und unsere Narben heilen jeden Tag ein bisschen mehr.“
Noriko schluckte. Sie spürte, dass hinter seinen fröhlichen Worten weit mehr Schmerz stand, als er ihr zeigen wollte – oder konnte. Viel mehr Unglück, deutlich mehr schlimme Erfahrungen, die sein Wesen und das seiner Brüder von Grund auf geprägt hatten. Dinge, die er ihr vielleicht niemals offenbaren würde, weil er sie sogar vor sich selbst verbarg.
„Verstehe … dann seid ihr also wirklich nicht verwandt“, murmelte Noriko schließlich, weil sie glaubte, dass diese Feststellung die unverfänglichste von allen war.
„Das stimmt. Wir teilen zwar nicht dasselbe Blut, aber wir sind Brüder“, bestätigte Kou fröhlich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Und was ist mit dir, Neko-chan?“, fragte er dann plötzlich und sah sie von der Seite an. „Hast du auch Geschwister?“
„Hm … ja, aber meine ältere Schwester ist schon vor zwei Jahren von zu Hause ausgezogen“, sagte Noriko nach einigem Zögern. „Wir haben nicht mehr viel Kontakt, obwohl wir uns immer gut verstanden haben, aber sie studiert im Ausland …“ Dann hielt sie inne. „Hast du mich gerade Neko-chan genannt?“, fragte Noriko Kou verblüfft.
Kou grinste und blieb vor Noriko stehen. „Ich liebe Katzen“, sagte er. „Und du bist jetzt meine kleine Neko-chan. Das passt doch auch gut zu deinem Namen, findest du nicht, Noriko-chan?“ Während er das sagte, strich er ihr eine lose Haarsträhne hinters Ohr.
Noriko konnte nicht anders, als sein spitzbübisches Grinsen zu erwidern und sie berührte kurz seine Hand, um den Augenblick ein wenig zu verlängern. „Einverstanden“, meinte sie dann mit einem erheiterten Lachen und schüttelte den Kopf. „Wenn du meinst.“ Kurz fuhr sie sich mit einer Hand durch die vom kalten Wind vollkommen zerzausten Haare. „Hey, Kou-kun“, meinte sie dann. „Was meinst du, ob wir noch einmal zusammen tanzen können?“
Für einen Moment sah Kou sie überrascht an, dann lächelte er zufrieden und schloss kurz die Augen, als die Mittagssonne ihm ins Gesicht schien. „Ich bitte sogar darum, Neko-chan.“
~

Sedutive ScentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt