"Gier und Neid"

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Als Noriko wieder wach wurde, hatte sie das Gefühl, genau so schon einmal aufgewacht zu sein, in Dunkelheit und umgeben von der Kälte der Winternacht, eingehüllt von einer weichen Decke. Es war wie ein Déjà-vu. Und diese flüchtige Erinnerung brachte leider keine guten Empfindungen mit sich … nur tiefsitzenden Widerwillen und Angst.
Erschrocken richtete sie sich auf, die Bettdecke raschelte, als Noriko sie von sich warf. Moment … Bettdecke?, fragte das Mädchen sich im nächsten Augenblick verwundert. Sie hatte noch gar nicht realisiert, wo sie überhaupt war, da war nur Panik in ihrem tiefsten Inneren, die sie instinktiv zur Flucht antrieb.
Als sie jedoch endlich ihre Umgebung in Augenschein nehmen konnte, wurde ihr rasch klar, wo sie sich befand. Kou Mukamis Zimmer. Und die Verwunderung war so groß, dass Noriko nicht einmal mehr daran dachte, dass das eigentlich überaus beunruhigend war. Wie bin ich hierhergekommen?, fragte sie sich nur verständnislos.
Es war dunkel und kalt, das Fenster stand offen. Sie zögerte, dann nahm Noriko die Bettdecke wieder zu sich und versuchte, sich damit zu wärmen, während sie sich mit dem Rücken an das Kopfende des Bettes lehnte. Dann versuchte sie krampfhaft, sich an irgendetwas zu erinnern, doch ihr Kopf war vollkommen leer … da war nur schwarzes Nichts.
Kou, schoss es ihr dann plötzlich durch den Kopf. Natürlich, er hat mir aufgelauert und mich gebissen … Sie seufzte und ihre Hand wanderte zu ihrem Hals. Die Schmerzen waren abgeklungen. Die Wunden schienen stets immer so fein zu sein, dass sie sich rasch wieder schlossen. Die Verletzungen an ihren Händen waren jedoch noch immer deutlich als dunkle Punkte und Striche zu sehen, getrocknetes Blut haftete noch immer an ihrem aufgeschnittenen Fleisch und auch wenn diese Wunden nicht mehr schmerzten, taten sie Noriko an einer anderen Stelle sehr weh.
Er hat mein Innerstes vollkommen aufgewühlt, dachte Noriko betrübt. Und ich konnte mich nicht im Geringsten wehren …
Sie war so in Gedanken , dass sie heftig zusammenzuckte, als sich plötzlich ein Körper neben ihr regte. Und nicht nur irgendein Körper, wie ihr kurz darauf klarwurde. Kou lag neben ihr. Zum zweiten Mal jetzt schon. Er schlief. Aber nicht besonders ruhig.
Nachdem sie sich vom ersten Schrecken erholt hatte, atmete Noriko zitternd die kalte Nachtluft ein, dann stand sie vorsichtig auf und tapste barfuß zum Fenster. Auf dem Weg dorthin bemerkte sie ihre Stiefel mitsamt Socken in der Zimmerecke. Zu ihrer Erleichterung trug sie jedoch noch immer ihre Schuluniform. Als sie am Fenster angekommen war, holte sie noch einmal tief Luft und schloss es dann möglichst leise.
Dann zögerte sie. Was sollte sie jetzt tun?
Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war und alles in ihr schrie danach, möglichst viel Abstand zu Kou zu halten. Aber was sollte sie hier schon tun? Das hier war wohl oder übel sein Revier und solange er es nicht wollte, konnte sie nicht fliehen …
Quatsch, widersprach sie sich schnell. Als ob ich so schnell aufgeben würde. Ich bleibe hier keine Sekunde länger als unbedingt nötig, entschied und zog sich dann eilig Socken und Schuhe an.
Dann trat sie vorsichtig hinaus in den Flur, gab sich ganz besonders viel Mühe, möglichst keinen Laut zu machen, sie versuchte, weder mit der Tür noch durch ihre Schritte ein Geräusch zu verursachen. Sie wollte doch nur hier weg, um Gottes Willen …
Zuerst gelang es ihr auch, leise zu sein, nahezu lautlos, zumindest, bis sie die Treppe erreichte. Dort blieb sie stehen und zögerte erneut. Lange. Das Haus war sicherlich schon älter und gottverdammt, niemand konnte Holztreppen hinuntersteigen, ohne dabei – vor allem natürlich nachts – einen Heidenlärm zu veranstalten.
Noriko seufzte und ihre Hand krallte sich um das Geländer. Ist doch egal, ich muss mich ohnehin beeilen, da ist es doch egal, ob mich jemand hört, sagte sie sich dann. Aber auf der anderen Seite scheint Kou-kun übermenschlich schnell zu sein … Ich sollte ihn besser nicht aufwecken, sonst fängt er mich sofort wieder ein … Sie atmete noch einmal zittrig ein und aus, dann stieg sie schließlich die Treppe hinunter, gelangte so in einen weiteren Flur. Am Ende dieses Flurs lag die Tür, die zurück in die Eingangshalle mit den beiden samtbezogenen Treppen führte.
Als Noriko jedoch nach der Klinke von besagter Tür greifen wollte, öffnete diese sich plötzlich von selbst und das Mädchen machte einen erschrockenen Satz nach hinten. Sie konnte deutlich spüren, wie ihr Herz in ihrer Brust wie verrückt hämmerte.
Vor ihr stand dieser Junge mit den Narben im Gesicht und jetzt bemerkte sie auch die hellen Verbände um seine dünnen Arme und seinen Hals. Verschreckt sah sie ihm ins Gesicht und wich kaum merklich zurück. Was jetzt?, fragte sie sich panisch.
Der Junge erwiderte ihren Blick für einige Momente vollkommen ausdruckslos, dann schloss er die Tür hinter sich und als sie weiterhin schwieg, waren es seine Lippen, die langsam zaghafte Worte zu formen begannen. „Hey … bist du … Kous Freundin?“
Norikos Herz machte erneut einen erschrockenen Hüpfer, doch dann nickte sie zögernd. „Ähm … ja“, stimmte sie ihm aus einer Eingebung heraus zu. „Und … du bist … ?“
Wieder folgte Stille, der trübe Blick seiner hellen Augen verriet nicht, was in seinem Inneren vorging, doch es schien beinahe, als zögere er. „ … Azusa“, sagte er schließlich knapp.
Noriko nickte und versuchte, sich zu beruhigen. Ob er wohl auch Kou-kuns Bruder ist?, fragte sie sich. Und bedeutet das, dass er ebenfalls … ein Vampir ist? Aber … was sollen dann die Verbände?
„Hey“, sagte Azusa da leise, seine schleppende Stimme war wirklich kaum mehr als ein Wispern. „Sag’ mal … Noriko-san … magst du … Schmerzen?“
Norikos Augen wurden groß. „Was?“, piepste sie mit vor Entsetzen dünner Stimme und machte noch einen Schritt zurück, gefolgt vom nächsten. Als sich dann auch noch die Tür links von ihr öffnete und eine weitere Person zu ihnen stieß, begann Noriko, am ganzen Leib zu zittern. „Ruki …-san?“, murmelte sie leise, als sie von stahlgrauen Augen gemustert wurde, dann sah sie noch einmal zu Azusa, doch da dieser noch immer ihren Fluchtweg versperrte, machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte wieder zurück, die Treppe hinauf.
Und wieder führte ihr Weg sie zurück ins Kous Zimmer, wo sie dann erneut die Tür schloss und sich verzweifelt auf die Lippe biss, während sie versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Noch immer war es so schrecklich kalt und Norikos Zittern wurde noch stärker.
Schließlich zog sie ihre Schuhe wieder aus und kroch, nach sehr langem Zögern, wieder zurück in Kous Bett. Es war weich und warm und dummerweise im Augenblick wohl der sicherste Ort für sie, so verrückt das auch klingen mochte.
Stumm starrte Noriko an die Zimmerdecke und wartete darauf, dass sie aufhörte zu zittern, doch es gelang ihr nicht. Es war, als sei die Kälte mittlerweile ein Teil von ihr, und sie fühlte sich so leer, so … ausgesaugt. Wortwörtlich. Sie kam sich so unendlich schwach vor.
Nicht lange, da flossen die Tränen doch, es war ein stummes Weinen, kein Laut verließ dabei ihre schmerzende Kehle, es tat bereits weh, wenn sie erneut zitternd die eisige Luft in ihre Lungen saugte. Es war, als fehle ihr jegliche Kraft. Bald darauf stellten sich auch Kopfschmerzen ein. Der Blutverlust hatte ihr nicht gutgetan, ganz im Gegenteil.
Schließlich musste sie wieder kurz eingedöst sein, die Erschöpfung war einfach übermächtig geworden, doch sie wurde wieder wach, als Kou ihr im Schlaf eine seiner Hände beinahe ins Gesicht schlug. Er traf sie nur an der Schläfe, doch es genügte, um sie aufzuwecken.
„Meine Güte“, murmelte Noriko, nachdem sie begriffen hatte, was überhaupt los war, und setzte sich wieder auf, zog die Knie an ihren Körper und lehnte sich mit dem Rücken erneut gegen das kühle Holz des Kopfendes. Die Kopfschmerzen, dieses dumpfe Pochen, war mittlerweile abgeklungen, aber die Erschöpfung war noch immer da. Müde musterte sie den Blonden, der neben ihr lag, zusammengerollt und zitternd.
Auch er zittert … und das nicht wegen der Kälte … genau wie ich, dachte sie beinahe mitleidig. Sie seufzte. Warum nur konnte sie ihm nach all dem nicht einmal so richtig böse sein? Also … sie war ihm böse … aber sie hasste ihn nicht. Er manipuliert die Menschen gut … ich kann ihn nicht einmal jetzt hassen, wo ich weiß, wer und was er ist … Beinahe musste sie über sich selbst lachen, aber es war ein verzweifeltes Lachen. Und dabei hat er mich schon wieder hierhergebracht … Sie hielt inne.
Konnte es sein, dass sie aufgrund des Blutverlusts am vergangenen Abend doch noch das Bewusstsein verloren hatte, auch nachdem er gegangen war? Warum war er dann also … warum hatte er … warum war sie … ? Noriko verstand gar nichts mehr.
Sie sah auf, als Kou im Schlaf leise wimmerte.
Was für Albträume könnte jemand wie er wohl haben?, fragte Noriko sich verwundert und ließ ihre Beine wieder sinken, kroch wieder unter die Bettdecke und wandte ihm das Gesicht zu. Und plötzlich störte es sie nicht mehr, Kou so nahe zu sein. In diesem Augenblick war er derjenige, der litt und der hilflos war … Noriko hatte in diesem Moment keine Angst mehr vor ihm.
Ihr fielen die Narben wieder ein, die sie auf seinem Rücken gesehen hatte. Es waren alte Narben und dennoch waren sie tief. Das waren keine Verletzungen, wie man sie sich in unbeschwerten Kindertagen zuzog. Also was war es, das Kou bis heute quälte?
Noriko musste an Azusa denken, an die Narben, die sein Gesicht durchzogen, Narben wie sie die Klinge eines Messers hinterließ. Was sind das nur für Leute? Ihr fiel auf, dass sie zwar Kous Brüder kennengelernt hatte, nicht jedoch seine Eltern oder irgendwelche anderen Erwachsenen, zu denen Kou, Azusa, Yuma oder Ruki einen besonderen Bezug gehabt hätten. Leben diese Vier etwa ganz alleine hier? Noriko zog fröstelnd die Bettdecke etwas höher, über ihre und Kous Schulter. Aber sie sind noch Schüler …
Als Kous Gesicht sich erneut vor Schmerz verzerrte, einem Schmerz, dessen Ursache nur er kannte, entschied Noriko, dass es genug war. Es tat ihr weh, ihn leiden zu sehen, denn im Grunde war er ja auch nichts weiter als ein Junge … ein Junge mit einer vernarbten Seele.
Vorsichtig legte sie eine Hand auf seine kühle Wange und sie war erstaunt darüber, wie weich seine Haut war, wie ebenmäßig und wie glatt. Alles in allem wie das Gesicht einer Porzellanpuppe. Verwundert über ihre eigenen abwegigen Gedankengänge strich sie Kou mit dem Daumen über das Gesicht. „Kou-kun“, sagte sie dabei leise. „Wach’ auf. Es ist alles gut.“
Tatsächlich genügte diese sanfte Berührung gepaart mit ruhigen Worten, um Kou aus seinem Albtraum aufzuwecken. Er schlug die Augen auf und reines, klares Blau blickte Noriko entgegen, umrahmt von dichten, dunklen Wimpern. „Noriko …-chan?“, fragte er verwundert.
Nur langsam zog Noriko ihre Hand zurück und sie blieb einfach liegen. „Ist alles in Ordnung, Kou-kun?“, fragte sie leise und wunderte sich über ihre eigene Ruhe. Alle Panik, alle Verzweiflung schien plötzlich von ihr abgefallen zu sein.
Nur ganz tief in ihr regte sich die Hoffnung, dass sie ihn nicht völlig falsch einschätzte.
„Ja …“, seufzte Kou und drehte sich auf den Rücken, strich sich mit einer Hand die blonden Haare aus dem Gesicht, seine Hand blieb auf seiner Stirn liegen. Sein Atem ging nun wieder ruhig und regelmäßig, doch es lag eine gewisse Schwerfälligkeit darin.
Gerne hätte Noriko ihm eine ihrer vielen Fragen gestellt, doch sie fürchtete, den friedlichen Augenblick zu ruinieren. Ein Augenblick mit Kou, in dem sie sich nicht vor ihm fürchtete, in dem er sie nicht drangsalierte, quälte oder verspottete … ein wertvoller Augenblick. Und darum schwieg sie, auch wenn sie nicht wusste, ob das richtig war. Aber es kam ihr richtiger vor, als zu sprechen und die vorherrschende Stille zu brechen.
Sie spürte, wie die klamme Kälte durch die Decke drang und sie fröstelte, zog die Decke noch ein wenig höher und zog die Beine an ihren Körper, um die Wärme besser halten zu können.
Da drehte Kou sich wieder zu ihr. „Ist dir kalt, Noriko-chan?“, fragte er leise.
„Nein“, sagte Noriko schnell, um irgendwelche dummen Situationen zu vermeiden.
Da stemmte Kou sich mit einem Arm ein wenig in die Höhe und musterte das Mädchen neben sich kurz. „Aber mir ist kalt, Noriko-chan“, sagte er dann und legte sich wieder hin, rutschte ganz nah an sie heran und zog sie schließlich sogar beinahe vorsichtig an seinen Körper.
Noriko war so perplex, dass sie zuerst gar nicht reagieren konnte, und dann, als sie so dicht neben ihm lag, entschied sie, dass es wohl besser war, sich nicht zu wehren. Vermutlich hätte es ihn nur wütend gemacht und im Moment war er … anders. Sie bemerkte die feine Duftnote, die von Kou ausging, sein ganz eigener Geruch gepaart mit dem angenehmen Parfum, das sie ihm geschenkt hatte. Es könnte schlimmer sein, dachte sie und schloss einfach die Augen, es gelang ihr schließlich sogar, sich zu entspannen.
Da lachte Kou leise, doch es war ein warmes Lachen, ein ehrliches Lachen. „So ist es doch schon viel wärmer, nicht wahr, Noriko-chan?“, fragte er gutmütig.
Sein Körper ist kalt, schoss es Noriko durch den Kopf. Aber es war auch nicht die Kälte, die mich hat zittern lassen. Es war die Angst. Und jetzt … habe ich keine Angst mehr. Sie wollte noch zaghaft nicken, doch tatsächlich kam sie gar nicht mehr dazu, denn die Erschöpfung forderte in diesem Augenblick erneut ihren Tribut und so schlief Noriko in Kous Armen ein.
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Sedutive ScentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt