"Der Handel"

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Am Donnerstag, drei Tage, nachdem Noriko Kou entgegen aller Vernunft todesmutig ihre Meinung gegeigt hatte, erlebte sie ihr nächstes Déjà-vu.
Zwei Tage lang war nichts passiert, und ehrlich gesagt konnte Noriko noch immer nicht so wirklich glauben, dass sie mit ihrem absolut spontanen und sehr heftigen Gefühlsausbruch derart unbeschadet davongekommen war, von der Ohrfeige ganz zu schweigen.
Ob er es vielleicht sogar begriffen hat?, fragte Noriko sich in diesen drei Tagen häufiger. Aber Kou ist gar nicht der Typ, der einfach kampflos aufgibt … Nicht, nachdem er offenbar so besessen gewesen war.
Doch er lief ihr nicht mehr über den Weg, nur einmal sah sie vom zweiten Stock aus die Brüder, sie sah Ruki, Yuma und Azusa und eben auch einen wohlbekannten blonden Haarschopf, doch ehe Kou sie bemerken konnte, war Noriko eilig weitergelaufen.
Es verging keine Stunde, in der Noriko sich nicht unwohl fühlte. Allein die Unterrichtsräume schienen ihr noch einigermaßen Sicherheit bieten zu können. Sobald sie jedoch in die weitläufigen Schulgänge trat, kam die Angst in ihrem vollen Ausmaß zurück.
Bereue ich es?, fragte Noriko sich beklommen, während sie sich mit Ayumi und Keiko auf die Fensterbank gegenüber der Schließfächer setzte. Nein … ich habe nur die Wahrheit gesagt … ich will nicht sein Besitz sein, nicht seine Beute, nicht sein Opfer. Alles, nur das nicht. Sie schluckte und ließ ihren Blick zu den trist grauen Schließfächern schweifen. Hier hat alles angefangen, nicht wahr? … Warum? Warum ich?
Sie sah auf, als Keiko Ayumi den Ellenbogen in die Seite stieß. „Da, schau!“, flüsterte das Mädchen mit den kurzgeschnittenen Haaren und deutete an Noriko vorbei.
Auch wenn Noriko nicht diejenige war, die angesprochen wurde, folgte sie dem Fingerzeig … und erstarrte. Kou kam den Gang entlang, zusammen mit seinen drei Brüdern. Schnell senkte Noriko den Blick. Scheiße, dachte sie einfach bloß, ihr Kopf war mit einem Mal wieder so schrecklich leer, vollkommen leer, in ihr blieb nur der unbändige Wunsch, sie hätte sich unsichtbar machen können. Verzweifelt schloss sie die Augen, als die vier Vampire sie und ihren Freundinnen erreichten.
Als sie vorsichtig wieder aufsah, fing sie gerade noch Rukis offenbar grundsätzlich argwöhnischen Blick, Yumas spöttisches Grinsen und Azusas ausdruckslose Miene auf, ehe die drei wortlos an ihnen vorbeizogen. Kou blieb als einziger stehen.
„Guten Abend, Ayumi-chan, Keiko-chan. Noriko-chan.“ Norikos Namen betonte er ganz besonders, doch sie hielt den Blick gesenkt. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“
Noriko holte möglichst unauffällig Luft und glaubte, gleich kollabieren zu müssen vor lauter Furcht. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass es etwas noch Schlimmeres gab, als Kou in ihrer Nähe zu wissen – Kou in der Nähe ihrer Freundinnen.
Ayumi und Keiko fielen unterdessen beinahe die Augen aus dem Kopf und vor allem die schüchterne Ayumi musste sich sehr zusammenreißen, um ihren Mund geschlossen zu halten.
Noriko hielt den Blick trotz allem gesenkt. Sie hätte Kou nicht ins Gesicht sehen können, ganz gleich, für wie tough sie sich selbst vor ein paar Tagen noch ausgegeben hatte. In ihrem Kopf ratterte es. Was soll das? Warum jetzt? Warum … warum spricht er mich jetzt an? Sie biss sich fest auf die Unterlippe, als Kou, genau wie damals – vor gar nicht mal so langer Zeit – ein harmloses Gespräch mit ihren Freundinnen anfing. Was, wenn er vorhat, sich als nächstes Ayumi oder Keiko zu angeln? Was, wenn er sich einfach ein neues Opfer sucht? Das kann ich doch nicht zulassen …
„Also dann“, sagte Kou schließlich, sehr zu Norikos Erleichterung, auch wenn sie nichts von dem Geplauder mitbekommen hatte. Ihr Kopf war wie in Watte gepackt. „Ich muss dann jetzt weiter. Ciao!“ Wieder dieses verspielte Zwinkern, während er zum Gruß die Hand hob und dann weiterging. Warum nur bemerkte niemand seine schreckliche Affektiertheit?
Weil … es so echt wirkt. Weil … niemand, der sein wahres Ich nicht mit eigenen Augen gesehen hat, sich jemals ausmalen könnte, wie er wirklich ist …
Stumm seufzend fasste Noriko sich an die Schläfen, während Ayumi und Keiko kaum an sich halten konnten vor Begeisterung. „Er hat sich unsere Namen gemerkt!“, quiekten sie vollkommen hin und weg. Dann sah Keiko zu Noriko. „Noriko, warum redest du eigentlich nicht mit ihm?“, wollte sie verwundert wissen.
Noriko verspürte das überwältigende Bedürfnis, sich mit der flachen Hand vor die Stirn zu schlagen. „Er hat sich doch mit euch unterhalten“, antwortete sie jedoch einfach nur.
„Ja, aber er hat immer wieder kurz zu dir gesehen“, sagte Ayumi und klang dabei beinahe eingeschnappt. Natürlich, immerhin himmelte sie Kou schon seit längerem an …
„Tja“, meinte Keiko nun. „Vielleicht macht sie ja auch genau das interessant für ihn …“
„Meinst du?“
Noriko sagte nichts, zu sehr überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf. Warum? Warum? Warum?! Es ließ sie nicht mehr los, den ganzen Abend nicht mehr. Und je länger sie über die Situation nachgrübelte, desto mehr wuchs die Angst um ihre beiden nichtsahnenden Freundinnen ins Unermessliche.
Als die Schule endlich endete und Noriko wie immer über das Schulgelände stapfte, bemerkte sie im Schein einer Laterne zwei vertraute Gestalten. Die eine, etwas größere, drückte alleine durch ihre Haltung Selbstsicherheit und Überlegenheit aus, die andere verkörperte eher das Gegenteil. Sie wirkte niedergedrückt und unsicher.
Kou und Azusa, kein Zweifel.
Von den beiden anderen Vampiren keine Spur.
Okay, dachte Noriko sich entschlossen, umfasste den Riemen ihrer Tasche fester und trat mit allem, was sie an Selbstbewusstsein aufbringen konnte, zu den beiden Brüdern. Vor Azusa hatte sie nicht so viel Angst, er war zwar auch unglaublich unheimlich, aber bei weitem nicht so furchteinflößend wie Yuma.
„Kou“, sagte sie mit fester Stimme und ernstem Blick. „Wir müssen reden.“
„Ah, Noriko-chan“, sagte Kou so fröhlich, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen.
Noriko biss frustriert die Zähne aufeinander. Verdammter Mistkerl … er nimmt mich nicht im Geringsten ernst, dachte sie sauer. Doch dann schluckte sie ihren Unmut herunter und packte unnachgiebig Kous Handgelenk, zog den Blonden von Azusa weg.
Der Dunkelhaarige beobachtete die Szene nur mäßig interessiert. Schließlich vergrub er dann seine Hände in den Hosentaschen und wandte sich ab. „Ich … geh’ dann schon mal“, meinte er leise und schlurfte dann über den Schulhof davon.
Als Azusa weit genug weg war, atmete Noriko noch einmal tief durch. Ich muss das hier jetzt einfach tun, sagte sie sich tapfer.
„Ich wusste, dass du wieder zu mir kommen würdest, Noriko-chan“, meinte Kou süffisant lächelnd, bevor sie überhaupt den Mund aufmachen konnte.
Noriko schnaubte. Selbstgefälliger Dreckskerl, dachte sie zornig. „Bild’ dir bloß nichts ein“, wies sie ihn dann deutlich zurecht und verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte sie ihn so auf Abstand halten, als könnte sie sich so vor ihm schützen. „Also, was sollte das vorhin? Lass’ Keiko und Ayumi gefälligst da raus!“
Kou schmunzelte bloß, als er ihre emotionsgeladenen Worte vernahm. „Bist du etwa eifersüchtig, Noriko-chan?“, wollte er amüsiert wissen.
Noriko schnappte nach Luft. „Ganz bestimmt nicht!“, fauchte sie und in ihr wuchs das Bedürfnis, ihm gleich noch einmal eine zu knallen, um ihm damit das selbstgefällige Grinsen erneut aus dem Gesicht zu wischen. Und sei es nur für ein paar Sekunden.
Kou kicherte und sah zur Seite, als gäbe es dort in der dunklen Nacht irgendetwas weitaus Interessanteres. Und dann verschwand sein Lächeln tatsächlich, mit einem Mal wirkte er todernst. „Ich verstehe dich jetzt, Noriko-chan“, sagte er einfach nur und seine Stimme war plötzlich ungewöhnlich dunkel. Es war, als sei er ein vollkommen anderer Mensch. „Du bist genau wie alle anderen. Du willst eine Gegenleistung haben.“
Noriko runzelte irritiert die Stirn. „Was? Ich will überhaupt nichts von dir“, erklärte sie ihm dann. Stellt er sich so doof oder rafft er es wirklich nicht?, fragte sie sich ein wenig konsterniert, dann entschied sie, dass das hier eine gute Gelegenheit war, um endlich die Fronten zu klären. „Ich will nichts von dir und im Gegenzug kriegst du auch nichts von mir, klar?“
Einen Moment herrschte Stille und er schien zu überlegen, kurz kaute er auf seiner Unterlippe, dann sah er wieder zur Seite. „Ah, dann … muss ich mir wohl jemand anderes suchen“, meinte er leichthin. „Vielleicht Keiko-chan? Sie scheint mich zu mögen und ein ganz ähnlicher Typ zu sein wie du, Noriko-chan. Ayumi-chan ist auch niedlich, doch sie wirkt im Vergleich zu dir und Keiko-chan etwas zu ängstlich …“ Er hob leicht die Schultern.
Noriko unterdessen glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. Es dauerte auch eine Weile, bis sie seine Worte wirklich in ihrem ganzen Ausmaß begriffen hatte. „Untersteh’ dich!“, fuhr sie den Blonden zornig an, seine berechnende, so furchtbar selbstgefällige Art widerte sie mit einem Mal so sehr an, dass ihr, genau wie vor drei Tagen, plötzlich alles egal war. „Wenn du meinen Freundinnen auch nur irgendwie zu nahe kommst, ich schwöre dir, dann …“
Kou kicherte, noch ehe sie eine – in seinen Ohren vermutlich ohnehin lächerliche – Drohung aussprechen konnte. „Du bist so anders, Noriko-chan“, sagte er erheitert. „Keine Sorge. Im Grunde habe ich kein wirkliches Interesse an deinen beiden Freundinnen. Nur an dir.“
Noriko schluckte. Jetzt wird er Ayumi und Keiko als Druckmittel benutzen, dachte sie wie betäubt. Und sie wusste leider sehr genau, dass er nicht nur bluffte. Ist Gehorchen denn wirklich alles, was mir übrigbleibt?, fragte sie sich mit zunehmender Verzweiflung. Warum nur bin ich so furchtbar machtlos? Warum kann ich nur nichts gegen ihn ausrichten?
„Also“, begann Kou nun nonchalant. „Wenn du willst, dass ich nicht auf Ayumi-chan oder Keiko-chan zurückgreifen muss, gibt es nur eines für dich zu tun.“ Er kam ihr langsam näher, bis sein Mund direkt neben ihrem Ohr war. „Komm’ mit mir, Noriko-chan“, wisperte der Vampir leise und die Hinterhältigkeit in seinen Worten war kaum zu überhören.
Noriko jedoch stockte. Mit ihm kommen? Warum? Insgeheim hatte sie bereits damit gerechnet, dass er sie gleich hier und jetzt beißen würde …
Sie erschauderte, als Kou weitersprach. „Und weil du nicht selbstlos genug bist, um dein Blut einfach so mit mir zu teilen, habe ich sogar ein Geschenk für dich.“
Nun wich Noriko verwundert zurück. Ein Geschenk?, fragte sie sich über alle Maßen irritiert. Was für ein Spiel spielt er mit mir? Was soll das alles? Sie schluckte erneut. All das … hat zu überhaupt nichts geführt. Er hat mich in der Hand … nach wie vor. Und ich kann Ayumi und Keiko unmöglich sehenden Auges in eine solche Gefahr bringen … „Und du wirst meine Freunde in Ruhe lassen?“, wollte sie forschend wissen.  
Kou lächelte. „Selbstverständlich“, versprach er ihr.
Noriko schluckte. Das Wort eines Monsters … Es verlangte ihr sehr viel Überwindung ab, schließlich zustimmend zu nicken. „Also gut“, willigte sie leise ein. Aber nur, weil es Ayumi und Keiko sind …
Kous Lächeln wurde noch breiter und die Verschlagenheit verschwand, zurück blieb nur ehrliche Freude. „Das freut mich, Noriko-chan. Warte nur ab, es wird dir gefallen!“
Noriko seufzte schwer und zog fröstelnd die Schultern hoch. Sie zuckte unwillkürlich zurück, als Kou plötzlich nach ihrer Hand griff und darauf wartete, dass sie ihm folgte.
Und sie tat es.
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Sedutive ScentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt