"Weil ich ihn liebe"

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Als Noriko die Augen wieder aufschlug, war es hell in Kous Zimmer. Schon wieder, dachte sie müde und blieb einfach schlapp liegen. Ich balanciere auf Messers Schneide … Doch dann schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen, als sie daran dachte, wer ebendiese in der vergangenen Nacht noch stürmisch und voller Verlangen geküsst hatte. … und ich liebe es. Ich liebe ihn. Und das, obwohl ich ihm neulich noch einfach so ins Gesicht gesagt habe, dass ich ihn hassen würde …
Als sie sich zur Seite drehte, stellte sie fest, dass Kou an diesem Morgen noch neben ihr lag, Beine und Arme an seinen Körper gezogen, einen Teil der großen Bettdecke fest an sich gepresst. Es sieht ihm überhaupt nicht ähnlich, sich so klein zu machen, dachte Noriko mit einem Schmunzeln. Zumindest nicht dem Kou-kun, der er immer vorgibt, zu sein.
Sie lächelte und schloss noch einmal die Augen, genoss die Wärme des weichen Bettes, spürte dieses Glücksgefühl in ihrer Bauchgegend. Ist es in Ordnung, unter diesen Umständen glücklich zu sein?, fragte sie sich dann, während sie wieder in einen entspannten Dämmerzustand zurückglitt. Ich habe schon wieder das Bewusstsein verloren, weil er sich nicht beherrschen konnte … er hat mir wehgetan … Aber warum sollte es nicht in Ordnung sein, wenn ich damit glücklich bin?, beantwortete sie sich gleich darauf ihre eigene Frage und zog die Bettdecke noch ein wenig höher. Ich kann selbst entscheiden, wann und warum ich glücklich bin, beschloss sie und atmete noch einmal tief ein.
Die Luft, die sie umgab, schmeckte nach Wärme, Geborgenheit und … Kou.
Sie öffnete die Augen wieder, als der Junge neben ihr leise jammerte. „Ach ja“, murmelte Noriko und betrachtete nachdenklich Kous schlafendes Gesicht, bis er sich unruhig im Bett herumwarf und ihr den Rücken zuwandte. Seinen Rücken, der von vier länglichen, ungleichmäßigen Narben gezeichnet war … Was sind das nur für Narben? Und … haben sie mit seinen Albträumen zu tun?, fragte Noriko sich verwundert. Wovon er wohl träumt? Es beschäftigt ihn scheinbar jede Nacht aufs Neue … Erneut kam sie nicht umhin, Mitleid mit ihm zu empfinden.
Schließlich stemmte sie sich mit einem Arm in die Höhe, auch wenn sie erneut so kraftlos war wie ein Mehlsack, doch sie riss sich zusammen und betrachtete Kou nachdenklich. Es verging eine ganze Weile, in der er sich immer noch weiter verkrampfte, sein ganzer Körper bebte, einmal hob er sogar im Schlaf die Arme über den Kopf, als ob er sich vor irgendetwas schützen wollte, es sah aus, als ob er schreien wollte, doch es verließ nur leises Wimmern seine Kehle.
Wovon wird er nur so geplagt?, fragte Noriko sich wieder und stützte den Kopf auf ihre Hand. Er ist mehr als ein Idol, mehr als ein Vampir … Vorsichtig berührte sie Kous nackte Schulter, bemerkte am Rande nur die Kühle, die von ihm ausging. Dann beugte sie sich zögerlich über ihn, hielt noch einmal inne, nur ihr Daumen streichelte sanft über seine weiße Haut. Ich sollte ihn wecken … aber wenn ich das tue … welcher Kou-kun wird er dann sein?
Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete noch einmal tief durch, nahm seinen Duft in sich auf. Er erinnerte sie an diesen unbeschreiblichen, feurigen Kuss, an alles Gute, das sie mit ihm verband … es war mittlerweile mehr, als man annehmen mochte.
Und selbst wenn sie in der vergangenen Nacht durch den Blutverlust erneut ohnmächtig geworden war, waren all diese Dinge noch so präsent, als seien sie gerade erst geschehen.
Doch natürlich erinnerte sie sich auch an seinen Blutrausch, diesen von Gier getriebenen Wahnsinn, sein unbändiges Verlangen nach ihrem Lebenssaft, der in ihren Adern pulsierte, an die Schmerzen … an die Angst, die Verzweiflung, die Zweifel an sich …
Aber … er hat sich bemüht, oder nicht? Es ist allein meine Schuld, dass er sich vergessen hat … er hat wortwörtlich Blut geleckt und von da an gab es für ihn kein Halten mehr … Ist er nicht letztlich einfach nur ein Sklave seiner Instinkte? Noriko seufzte. Natürlich war ihr klar, dass sie sich da in einer absolut lebensbedrohlichen Geschichte verstrickt hatte, aber … die Illusion war so viel süßer als die Vernunft.
Endlich entschloss Noriko sich, Kou zu wecken. Doch … vorher … Sie konnte nicht widerstehen, ihre Lippen auf Kous weiße weiche Haut zu legen, während ihre Hand seinen Arm hinabstrich und dann auf seinen Rücken glitt, sie fuhr seine Wirbelsäule hinauf, spürte die Narben unter ihren Fingerkuppen. Währenddessen streifte sie vorsichtig, hauchzart  auch seinen Hals mit ihrem Mund und musste dabei grinsen. Ich glaube, ich fange an, ihn zu verstehen … Sie  hielt inne, als Kou sich mit einem Mal regte.
„Noriko-chan?“, murmelte er verschlafen und drehte sich zu ihr herum, sah sie verwundert an.
Im ersten Augenblick wollte das Mädchen sich peinlich berührt zurückziehen, doch dann musste sie einfach grinsen. Ihm ist doch auch nichts zu blöd. „Guten Morgen, Kou-kun“, flötete sie daher fröhlich und es fiel ihr überraschend leicht, ihre Verlegenheit zurückzudrängen. Ich bereue nichts.
Doch als Kou sich ihr nun gänzlich zuwandte und den Kopf, genau wie sie, auf seiner Hand abstützte, bemerkte sie – spätestens, als sein Blick unverhohlen nach unten wanderte – dass die Bluse ihrer Schuluniform noch immer ein ganzes Stück weiter offenstand als es eigentlich üblich war. Schnell richtete sie sich auf und schwang die Beine über die Bettkante, schloss eilig die Knöpfe. Dabei bemerkte sie die Kette, die Kou ihr am vergangenen Tag geschenkt hatte und sie hielt für einen Moment inne. Es ist so viel passiert …
Als sie sich schließlich mit einer Hand durch die ungekämmten Haare fuhr, hielt sie inne, ihre Haare hatten sich in ihrem Ohrring verfangen. Normalerweise legte sie diese Schmuckstücke vor dem Schlafengehen immer ab, aber in diesem Fall war sie darauf dummerweise nicht vorbereitet gewesen. Noriko musste grinsen und stand auf, ging um das Bett herum und zu dem kleinen Spiegel, der auf der Kommode stand. Sie bemerkte Kous aufmerksamen Blick und musste erneut lächeln. Es ist wirklich kaum zu glauben, dass ich ihm vor vier Tagen noch gesagt habe, dass ich ihn hasse … allerdings … wäre es vielleicht – nein, mit Sicherheit – gar nicht so wie jetzt, wenn ich es nicht getan hätte …
Sie zuckte leicht zusammen, als sich plötzlich Kous Arme von hinten um ihren Körper schlangen und obwohl er so kalt war, wurde ihr warm ums Herz. Doch schon im nächsten Moment lief ihr ein kalter – wenn auch nicht unangenehmer – Schauer den Rücken hinunter, als er seine Lippen auf ihren Hals legte, sie keuchte leise auf, als er leicht an ihrer empfindlichen Haut saugte und dann weiter glitt. Und ehe Noriko sich versah, knöpfte er mit geschickten Fingern ihre Bluse schon wieder auf und schob den Stoff von ihrer Schulter. Sie ließ es einfach geschehen, zu gut fühlten sich seine Liebkosungen an.
„Hah … Noriko-chan … dein Blut ist schon wieder so sprudelnd heiß … “, wisperte Kou verzückt und allein seine in Ekstase gemurmelten Worte ließen Norikos Herz höherschlagen, und auch sein Griff wurde noch ein wenig fester, doch es war kein unbequemer oder gar schmerzhafter Griff, vielmehr fühlte Noriko sich geborgen, so wie er sie hielt, die rechte Hand um ihre Hüfte und der linke Arm über ihren Oberkörper gelegt, die Hand auf ihrer rechten Schulter, sodass sie seinem Griff nicht einmal hätte entkommen können, wenn sie das gewollt hätte. Doch in diesem Moment fühlte sie sich sicher und … begehrt.
Auch … wenn es im Grunde nur mein Blut ist, das er will, dachte sie seltsam entrückt, während sie seine Küsse, seine Lippen auf ihrer Haut, genoss. Doch wer liebt schon vollkommen uneigennützig? Andere wollen Aufmerksamkeit oder Sex, wieder andere sind auf Geld aus … und Kou-kun ist ganz versessen auf mein Blut, wenn ich Liebe empfinde … also … was daran ist falsch?
Noriko bemerkte, wie ihre Kleidung sich noch weiter gen Erdboden verabschiedete, nun war es ihr Rücken, der von Kou schier in Flammen gesetzt wurde, immer und immer wieder. Doch als er sich dann langsam wieder nach oben arbeitete, als sie seine Zunge spürte, wie er über ihre Halsschlagader leckte, kam sie schweren Herzens wieder zur Besinnung. „Kou-kun“, sagte sie leise. „Es tut mir leid, aber du hast gestern schon viel zu viel …“
„Sei still“, befahl er ihr mit rauer Stimme und dann spürte sie, wie er mit einem seiner Eckzähne die Haut an ihrem Schulterblatt aufritzte.
Scharf sog Noriko die Luft ein, doch schon im nächsten Augenblick glitt Kous kalte, nasse Zunge über die Schnittwunde und betäubte den Schmerz. „Kou-kun“, begann Noriko dann jedoch beharrlich. „Wenn du dich nicht zurückhalten kannst, werde ich möglicherweise sterben.“ Sie brachte diese unschöne Wahrheit erstaunlich leicht über die Lippen. Hoffentlich hat sich sein Verstand noch nicht vollkommen verabschiedet, dachte sie beklommen. Ich bin ihm vollkommen ausgeliefert … Erleichtert bemerkte sie dann jedoch, dass er innehielt und sich langsam wieder aufrichtete.
Seine Hände umgriffen ihre Schultern und drückten leicht, aber bestimmt zu. „Dann solltest du aufhören, mich so zu verführen, Noriko-chan“, raunte er und wollte nach ihrem Ohr schnappen, doch in diesem Augenblick wandte Noriko ihm ruckartig ihr Gesicht zu.
„Da spricht der Richtige“, meinte sie spöttisch und zog eilig ihre Bluse wieder nach oben.
Kou grinste kurz und wandte sich dann ab, streckte sich ausgiebig.
Ein wenig verlegen warf Noriko einen flüchtigen Blick auf seinen bloßen Oberkörper, auf die makellos weiße Haut, die sich über seinen Brustkorb, gut sichtbare Rippen und nur leicht angedeutete Bauchmuskeln spannte. Kou war wirklich sehr dünn, beinahe schon mager, doch es befand sich wohl noch in einem gesunden Rahmen.
Gegen ihren Willen musste Noriko schlucken und wandte sich dann wieder ab, befreite endlich ihren Ohrring von ihren widerspenstigen Haaren, fuhr noch einmal mit ihren Händen durch ebendiese, hoffte, dass das genügen würde, und richtete ihre Uniform wieder. Als sie sich dann umdrehte, stand Kou vor ihr, eine Hand ausgestreckt.
„Komm’, Noriko-chan“, sagte er freundlich. „Es ist Zeit fürs Frühstück.“
Einen Moment lang zögerte Noriko, dann erhellte ein Lächeln ihr Gesicht und sie legte ihre Hand in seine, ihr Herz pochte ein wenig stärker, als seine schlanken Finger sich zwar fest, aber dennoch sanft um ihre schlossen und er sie mit sich zog.
Gemeinsam stiegen sie hinunter ins Erdgeschoss und Kou führte sie zum ersten Mal auch ins Esszimmer, einen großen, hellen Raum mit ebenso kunstvoll gestalteten Wänden wie im Wohnzimmer, nur war es hier kein Blau, sondern ein angenehmer, heller Gelbton. Der Speisesaal machte, wie die ganze Villa, einen sehr edlen Eindruck, nicht zuletzt wegen dem Kamin und der hohen Tür, die beinahe schon an eine Pforte erinnerte.
Noriko biss sich unbehaglich auf die Lippen, als zwei Blicke sie trafen, kaum dass Kou sie in den Raum geführt hatte. Blicke, die sie augenblicklich einschüchterten. Yuma und Azusa hatten beide in ihrem Tun innegehalten und sahen nun mehr oder weniger interessiert zu den beiden Neuankömmlingen. Während Yuma in einer Hand vier Teller hielt, die er gerade hatte abstellen wollen, war Azusa dabei gewesen, das Besteck zu verteilen.
„Ah, Yuma-kun, Azusa-kun“, rief Kou fröhlich und zog Noriko einfach weiter hinter sich her. „Noriko-chan wird mit uns essen“, verkündete er geradeheraus.
Noriko zuckte leicht zusammen, als Yumas finsterer Blick erneut von Kou zu ihr wanderte. „Du schon wieder?“, fragte er wenig begeistert und kam langsam näher, bis er sich in seiner vollen Größe vor Noriko aufgebaut hatte. Und das war … viel.
Noriko schluckte schwer, doch dann spürte sie, wie Kou leicht ihre Hand drückte, die noch immer in seiner lag. Und so riss Noriko sich zusammen und neigte leicht den Kopf vor Kous Bruder. „Guten Morgen, Yuma-san“, grüßte sie ihn höflich, dann blickte sie an ihm vorbei zu dem wahrscheinlich Jüngsten der Brüder, der langsam nähergeschlichen war. „Guten Morgen, Azusa-kun“, sagte sie auch zu ihm, was ihr deutlich leichter fiel. Dann jedoch sah sie wieder zu Yuma auf, er war so groß, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste.
Yumas Blick hatte sich ein wenig verändert, doch Noriko konnte ihn nicht so recht deuten. Als der Vampir sich allerdings zu ihr herunterbeugte, weiteten seine Augen sich überrascht. „Unmöglich“, raunte er verwundert und wich schnell wieder zurück.
Noriko schluckte. Dann können sie es wohl alle spüren, dachte sie beklommen. Erleichtert atmete sie auf, als Kou seinem jüngeren Bruder mit einem mahnenden Blick bedachte. Doch sagen tat er nichts. Das wird wohl auch hoffentlich nicht mehr nötig sein, sagte Noriko sich.
„Du hättest wenigstens sagen können, dass wir Besuch haben“, meinte Yuma nun tadelnd und verteilte endlich die vier Teller, die er die ganze Zeit über in einer Hand gehalten hatte.
„Ah, tut mir leid“, sagte Kou mit einem fröhlichen Lachen. „Es war auch eigentlich nicht vorgesehen, dass Noriko-chan über Nacht bleiben würde …“
Noriko schmunzelte verhalten. Lügner.
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Azusa den Raum verlassen hatte, eigentlich fiel es ihr erst auf, als er zurückkam, in seiner Hand hielt er einen weiteren Teller und zusätzliches Besteck. Beides richtete er an einem freien Platz an der Längsseite des Tisches an.
Noriko schluckte. Sie fühlte sich unwohl, nicht direkt unerwünscht – na gut, von Yuma schon, von Azusa und Kou weniger – aber auf alle Fälle unbehaglich.
Sie schreckte zusammen, als sie plötzlich kalte Finger an ihrer linken Hand spürte, Finger, die noch kälter waren als die von Kou. Azusa stand neben ihr und hatte ebenfalls nach ihrer Hand greifen wollen, doch nun, da sie zurückgezuckt war, ließ er die Hände wieder sinken. „Hey … willst du dich nicht … setzen?“, fragte er langsam.
Noriko zögerte. Diese Situation behagte ihr so ganz und gar nicht. Denn wie sie es auch drehte und wendete, sie sollte allein mit vier Vampiren essen, Vampiren, die möglicherweise genauso sehr von ihr angezogen wurden wie Kou …
„Komm’, Noriko-chan“, sagte Kou da zu ihrer Erleichterung und ging mit ihr zum Tisch, zog den Stuhl zurück und bedeutete Noriko, sich zu setzen.
Sie gehorchte und ließ zu, dass er den Stuhl auch wieder an den Tisch schob. Dann starrte sie stumm auf den weißen, mit blauen Verzierungen versehenen Teller und betete, dass sich die anstehende Mahlzeit nicht allzu beklemmend gestalten würde.
Kaum dass Kou sich neben sie gesetzt hatte – immerhin etwas, das sie in dieser Situation beruhigte – öffnete sich die angrenzende Tür und Ruki kam herein, in der Hand einen großen Teller mit Pfannkuchen. Als er Noriko bemerkte, nickte er ihr kurz zu.
„Guten Morgen“, sagte Noriko leise und sah dann angespannt in Kous Richtung. Es gibt nichts Schlimmeres, als Essen bei anderen, dachte sie verzweifelt.
Kou bemerkte ihren Blick und griff nach seinem Besteck, um Noriko einen Pfannkuchen auf ihren Teller zu legen, kaum dass Ruki ebendiese abgestellt hatte. „Ruki-kun ist ein wahrer Meisterkoch“, meinte Kou grinsend und  tat sich dann selbst auf.
„D-danke“, stotterte Noriko, weil sie nicht wusste, was sie anderes sagen sollte.
Dann beobachtete sie stumm, wie Yuma zuerst Azusa sein Essen auf den Teller legte, ehe er sich selbst bediente, während Ruki schon stillschweigend zu essen begonnen hatte.
„Guten Appetit“, meinte Kou fröhlich und begann dann ebenfalls zu essen.
„Guten Appetit“, erwiderte Noriko zögerlich und tat es ihm dann gleich.
„Azusa, hör’ auf zu träumen“, sagte Yuma in diesem Moment zu seinem jüngeren Bruder.
Verwundert hob Noriko den Blick und sah zu dem dunkelhaarigen Jungen, der wie ein Häufchen Elend auf seinem Stuhl hockte, das Besteck unberührt vor sich liegend.
„Ich … hab’ … keinen Hunger“, sagte Azusa dann stockend.
„Unsinn“, widersprach Yuma und legte sein Besteck mit Nachdruck wieder auf den Tisch zurück. „Du hast schon gestern nichts essen wollen, so kann das nicht weitergehen.“
„Wie kannst du nur Rukis Pfannkuchen ausschlagen?“, fragte Kou verständnislos.
Azusa hob nur die Schultern. Und selbst das tat er sehr träge.
Diese Jungen sind nicht normal, dachte Noriko, nicht zum ersten Mal, doch zum ersten Mal dachte sie es, ohne sie in irgendeiner Weise abwerten zu wollen. Kou gibt sich tagsüber ganz normal und liebenswert, aber nachts hat er immer wieder Albträume, Ruki ist vollkommen in sich gekehrt, während Yuma sogar wütend klingt, wenn er sich um andere sorgt … und Azusa … Azusa sieht aus, als habe er überhaupt keine Kraft mehr zum Leben … Ein Gedanke, der sie irgendwie bedrückte.
„Azusa, wenn du dich nicht bald wieder einkriegst, ziehe ich deine ganzen geliebten Messer ein, kapiert?“, fuhr Yuma seinen Bruder nun ungehalten an.
Noriko bemerkte, wie Azusa sich ein wenig versteifte und seine Augen sich weiteten, doch er sagte nichts, ließ nur betrübt den Kopf hängen. Von Widerrede keine Spur.
Messer?
„Yuma … Lass’ ihn“, mischte sich nun Ruki auf seine üblich beherrscht-ruhige Art ein. „Es ist seine freie Entscheidung, ob er essen will oder nicht.“
Yuma schnaubte. „Demnächst müssen wir ihn noch füttern.“
„Das möchte ich sehen“, meinte Kou leise lachend.
„Das ist nicht witzig“, wies Yuma ihn barsch zurecht.
„Ich … gehe … in mein Zimmer“, sagte Azusa da und schob langsam den Stuhl zurück, stand auf und schlurfte an ihnen vorbei zur Tür, die er vorsichtig aufschob.
Yuma sah auf. „Hey! Hey, Azusa!“, rief er noch, doch da war Azusa auch schon durch den schmalen Spalt hinaus in den Flur geschlüpft und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen. Yuma seufzte. „Menschenskinder, er benimmt sich wie ein bockiges Kleinkind!“
„Und du führst dich auf wie eine gackernde Henne“, foppte Kou ihn sofort.
„Hä?“, fuhr Yuma seinen Bruder an, dann zeigte er drohend mit dem Messer auf ihn. „So etwas Freches muss ich mir von einem Zwerg wie dir nicht sagen lassen!“
Gegen Yuma-san sind wir alle Zwerge, dachte Noriko und musste trotz allem leicht grinsen. Auch, wenn es am Tisch laut zuging, die Mukamis waren Geschwister … und sie benahmen sich eben auch wie welche. Ihre Beschimpfungen und kleinen Gemeinheiten waren nicht bösartiger Natur … das spürte Noriko.
„Wen nennst du hier Zwerg, du Großmaul?“, fragte Kou mit gefährlichem Unterton zurück.
„Schluss jetzt, ihr beiden“, unterbrach Ruki die beiden Streithähne seelenruhig, doch merkwürdigerweise hielten die beiden augenblicklich den Mund. „Was soll denn unser Gast von euch denken, wenn ihr euch beide benehmt wie ungezogene Kinder?“
Noriko biss sich auf die Unterlippe, um nicht allzu sehr zu grinsen, doch Kou bemerkte es und warf ihr einen verschmitzten Seitenblick zu, den sie verstohlen erwiderte.
Als sie das Essen beendeten, stand Noriko auf. „Kann ich euch irgendwie behilflich sein?“, wollte sie höflich wissen und griff schließlich nach ihrem Teller und dem Besteck.
„Ich mach’ das schon“, sagte Yuma, der plötzlich hinter ihr stand, und nahm ihr beides aus der Hand, stapelte mit geübten Handgriffen das Geschirr und trug es in die Küche.
„Komm’, Noriko-chan“, sagte Kou da und winkte ihr, ihm zu folgen.
Sie tat es und gemeinsam liefen sie wieder die Treppe hinauf. Als sie jedoch an der Tür zum Badezimmer vorbeigingen, blieb Noriko stehen. „Ich … ich müsste mal kurz ins Bad“, sagte sie und als Kou nickte, öffnete sie die Tür und schloss sie auch wieder hinter sich.
Dann trat sie vor den Spiegel und schob ihre Bluse ein wenig zur Seite, betrachtete eingehend die vielen Bissspuren, die sie in der vergangenen Nacht an Hals und angrenzender Schulter davongetragen hatte. Das hier ist schlimmer als jeder Knutschfleck, dachte sie mit einem Seufzen. Was mach’ ich damit nur? So viele Pflaster wären zu auffällig … ich könnte einen Schal tragen … aber immer … ? Vielleicht könnte ich auch versuchen, sie zu überschminken … zumindest, wenn sie ein wenig abgeheilt sind. Sie drehte den Wasserhahn auf und wusch sich kurz das Gesicht.
Als sie dann wieder in den Spiegel sah, erschrak sie, als sie Azusa an der gegenüberliegenden Wand lehnen sah. Wann … wann ist er … ?
„Noriko-san“, sagte Azusa leise. „Du hast mir … noch nicht … geantwortet. Magst du … Schmerzen? Yuma und ich … haben dir … wehgetan … vor ein paar Tagen.“
Noriko schluckte. Oh bitte nicht, dachte sie und begann zu zittern. Nicht schon wieder … Zögernd wandte sie sich um und atmete tief durch. „Was … was willst du von mir?“, wollte sie leise wissen.
„Antworte mir“, sagte Azusa und stieß sich leicht von der Wand ab, kam langsam auf sie zu. „Gefallen dir … Schmerzen?“ Er blieb direkt vor ihr stehen.
„N-nein“, stammelte Noriko leise und bemerkte erneut die Narben in Azusas Gesicht, vor allem eben diese eine, die seinen geraden, weißen Nasenrücken zierte.
„Warum … bist du dann … hier?“, wollte Azusa wissen und kam ihr noch näher, beinahe wie ein neugieriger Hund. „Warum bist du dann … Kous … Freundin?“
Noriko wich noch weiter vor ihm zurück, sie konnte ihn nicht einschätzen. Mochte er auch noch so harmlos wirken, bekanntermaßen waren stille Wasser tief. „Weil ich ihn liebe“, brachte sie die Antwort dann jedoch einigermaßen flüssig heraus.
„Lie … be …?“, echote Azusa leise, als wäre es für ihn ein Fremdwort, und wich wieder ein Stück zurück, sah zur Seite, als müsse er kurz über ihre Worte nachdenken.
Noriko entspannte sich wieder ein wenig. „Azusa-kun“, sagte sie dann leise. „Was sollte diese Frage … diese Frage mit den Schmerzen?“, wollte sie verwundert wissen.
„Ich mag … Schmerzen“, sagte der Junge da und ein kleines, hauchzartes Lächeln umspielte seine blassen Lippen, während er auf den Boden sah. Dann hob er den Blick wieder. „Hey, Noriko-san … willst du mir vielleicht … Schmerzen … zufügen?“, fragte er und kam ihr wieder so nah, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.
Norikos Augen weiteten sich. „Was? … Nein!“, rief sie entschieden aus.
Mit einem Mal öffnete sich die Tür und Kou steckte seinen Kopf herein. Als er Azusa und Noriko sah, warf er die Tür regelrecht auf. „Azusa-kun! Was soll das?“, fragte er.
Es dauerte eine Weile, dann wandte Azusa das Gesicht seinem Bruder zu. „Ich habe … nichts gemacht … nur … geredet“, verteidigte er sich schwach.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du Noriko-chan in Ruhe lassen sollst“, sagte der Blonde streng und stemmte die Hände in die Hüften. „Los, verschwinde.“ Sein Blick folgte seinem kleinen Bruder, bis dieser aus dem Badezimmer geschlichen war. Dann fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare und seufzte dabei theatralisch. „Meine Güte.“
Noriko, deren Herz noch immer heftig klopfte, ließ nun langsam das Waschbecken los, an das sie sich zwischenzeitlich gekrallt hatte. „Kou-kun … was ist los mit deinem Bruder?“, fragte Noriko schließlich leise und ging ein paar Schritte auf Kou zu.
„Huh?“, machte Kou fragend.
„Na … das alles. Er wirkt so … so traurig und … du weißt schon. Und dann das am Esstisch vorhin, oder gerade eben, als er mich diese Sachen gefragt hat …“
„Ach … Azusa-kun ist eben schwierig“, meinte Kou leichthin.
„Glaubst du nicht, dass sich jemand um ihn kümmern sollte?“, fragte Noriko zweifelnd.
„Ach, Unsinn“, winkte Kou einfach ab.
Noriko atmete noch einmal tief durch. „Was ist mit dir, Kou-kun?“, wollte sie leise wissen. „Du hast immer diese Albträume, jede Nacht … und dann sind da diese Narben auf deinem Rücken.“ Sie bemerkte seinen überraschten Blick, doch sie sprach einfach weiter. „Jetzt guck’ nicht so. Du gibst dir nicht einmal Mühe, sie zu verstecken. Was ist passiert?“
Kou schien zu zögern, dann ging er langsam auf Noriko zu, schloss sie in seinen Armen ein, stützte sich links und rechts von ihr auf dem Waschbecken ab. „Wir leben in einer Welt, in der gegeben und genommen wird“, sagte er dann ungewöhnlich ernst, doch seine Stimme war nur wie ein leiser Windhauch, und der Blick seiner blauen Augen hielt ihren einfach gefangen. „Und manche werden nicht gefragt, was sie zu geben bereit sind …“
Noriko schluckte. Wovon spricht er?
„Um nicht in Armut, Elend und Kälte zu leben, müssen manche von uns einen hohen Preis zahlen. Wir alle mussten das, Noriko-chan. Und wir alle tragen Narben.“
Spricht er von sich und seinen Brüdern? Woher kommen sie? Waisenkinder? Ist das der Grund, warum sie alleine leben? Aber … wer um alles in der Welt würde denn Kinder quälen, sodass solche Narben entstehen? … Nicht die Narben auf Kou-kuns Rücken, nicht die Narben in Azusa-kuns Gesicht … die Narben auf ihrer Seele. „Ich … verstehe“, sagte Noriko leise und musste schwer schlucken. „Das … das tut mir leid.“
Kous Blick war ganz ruhig. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Noriko-chan.“
Ein wenig betrübt zog Noriko die Mundwinkel in die Höhe und zögerte einen Augenblick, doch dann hob sie vorsichtig die Hand und legte sie auf Kous Wange, ließ sie dort einfach einen Augenblick ruhen, und er wandte den Kopf zur Seite, fasste ihr Handgelenk und küsste es sanft, sodass es angenehm kribbelte. Ein gieriger Seitenblick verriet ihr, was er als nächstes tun würde und sie wehrte sich nicht, als er ihr Handgelenk anritzte, um erneut von ihrem Blut zu kosten. Sie ließ es geschehen.
Weil ich ihn liebe.

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Hach ja. Dieses Kapitel hat mir ganz besonders Spaß gemacht ^.^ Ich hoffe, es hat euch auch gefallen. Und es ist ... länger als ich erwartet hatte xD Schön :D

Sedutive ScentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt