"Verfolgt"

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Als Noriko Montag abends das Schulgebäude betrat, konnte sie deutlich spüren, wie sich ihre Herzfrequenz beschleunigte. Allein der Gedanke, dass sie sich unmittelbar in Kou Mukamis Nähe befand, machte sie nervös, ja, geradezu panisch.
In ihren Augen war er unberechenbar, absolut gefährlich. Und tagtäglich mischte er sich mitten unter hunderte nichtsahnende Schüler … von denen er sogar bewundert wurde.
Die altbekannte Übelkeit kehrte in Norikos Magengegend zurück.
Das Schlimmste an der ganzen Sachen war wohl, dass sie niemandem davon erzählen konnte. Zu Beginn hatte sie sich noch gewundert, warum er sie einfach so unbehelligt nach Hause gehen ließ und ihr noch nicht einmal drohte, doch im Laufe des vergangenen Tages war ihr klargeworden, dass das für ihn gar nicht notwendig gewesen war.
Allein die Tatsache, dass er kein Mensch war, sondern eine blutsaugende Bestie, war schon Drohung genug. Noriko konnte ihn ehrlich gesagt nicht einschätzen, doch vermutlich war er ziemlich skrupellos. Wer wusste schon, was mit ihr und denen, die sie liebte, passieren würde, wenn sie sein „Geheimnis“, wie er es selbst genannt hatte, ausplauderte?
Möglicherweise wären die Bisswunden an ihrem Hals und ihrem Unterarm Beweis genug gewesen, zusammen mit seinen Vampirzähnen, doch … das Risiko erschien Noriko schlicht und ergreifend zu groß. Er könnte sie sicherlich einfach verschwinden lassen und dann auf seine üblich charismatische Art alles wieder ins Lot bringen. Sie traute es ihm zu.
Und selbst wenn Noriko außen vorließ, dass er ein Vampir war und ihm stattdessen etwas anderes, aber ähnlich Abscheuliches zur Last legte, um ihn auf Abstand zu halten, konnte kein Mensch vorhersagen, was geschehen würde. Ja, im Grunde hätte sie die Sache ein wenig umgestalten können, immerhin stimmte es ja, dass er sie gegen ihren Willen festgehalten und ihr Gewalt angetan hatte … aber für eine Anklage in diese Richtung fehlten ihr wohl – so niederschmetternd es auch klang – die Beweise.
Außerdem war Kou Mukami nichts weiter als ein Schüler im Alter von siebzehn bis achtzehn Jahren, und er wirkte so unschuldig, so freundlich, er spielte seine Rolle so perfekt …
Noriko blieb, auch nach langem Grübeln, nichts anderes übrig, als zu schweigen. Natürlich, Kou hatte das alles, ob es ihr passte oder nicht, ziemlich gut eingefädelt. Nun gut … im Grunde hatte er nur darauf gesetzt, dass sie ihn fürchtete. Und leider hatte er ja Recht damit.
Warum nur war sie so schrecklich machtlos? Allein der Gedanke, dass es für sie augenscheinlich keine Hilfe gab, ließ ihr Tränen in die Augen steigen. Warum nur hatte sie sich so einfach von ihm um den Finger wickeln lassen?
Sie fühlte sich wie benutzt und anschließend weggeworfen …
Es hätte noch viel schlimmer kommen können, redete sie sich selbst verzweifelt ein. Er hatte mich vollkommen in seiner Gewalt und er hat trotzdem nichts weiter getan, als mein Blut zu trinken … Nein!, unterbrach sie sich selbst hastig und wütend ballten sich ihre Hände zu Fäusten. Er hat mich mit keinem Wort gefragt und was mit mir war, war ihm die ganze Zeit über völlig egal. Er ist ein elendes Schwein, nicht mehr und nicht weniger.
Sie erkannte sich selbst nicht mehr wieder, ihre eigene ohnmächtige Wut gepaart mit Hilflosigkeit ängstigte sie mit einem Mal beinahe genauso sehr wie die Furcht, dass sie Kou erneut über den Weg laufen könnte … oder dass er sie gezielt aufsuchte.
„Hey, Noriko!“
Noriko zuckte erschrocken zusammen, und das, obwohl ihr die helle Mädchenstimme, die sie gerufen hatte, auf eine angenehme Weise bekannt vorkam und vertraut war. Doch vermutlich war sie einfach nur zu sehr in Gedanken gewesen …
Ein paar Augenblicke später schloss Ayumi zu ihr auf. „Na, wie war dein Wochenende?“, wollte das Mädchen mit den langen glatten Haaren fröhlich wissen.
Noriko seufzte und zog dabei die Schultern hoch. „Geht so“, murmelte sie leise.
Ayumis Grinsen verschwand. „Hey, was ist denn passiert?“, wollte sie besorgt wissen.
„Nichts … nichts Wichtiges“, meinte Noriko ausweichend. Sie konnte sich einfach nicht sorgloser stellen, als sie sich in Wahrheit fühlte … und im Augenblick lasteten gefühlte Tonnen an Sorgen auf ihren Schultern und ihrer Brust.
Als sie das Klassenzimmer erreichten, kam Keiko ihnen gerade auf dem Gang entgegen. „Hallo … Mann, siehst du vielleicht fertig aus!“, sagte sie zur Begrüßung.
„Huh?“, machte Noriko verwundert und musste über diese Ehrlichkeit beinahe grinsen.
„Ja, du bist wirklich total blass“, schloss Ayumi sich nun ihrer Freundin an. „Bist du sicher, dass alles okay ist mit dir?“ Sie legte Noriko eine Hand auf die Stirn.
Unwillig wich Noriko nach hinten aus.
„Wenn’s dir nicht gut geht, geh’ doch besser wieder nach Hause“, meinte Keiko ungewöhnlich fürsorglich und legte ihrer Freundin eine Hand auf die Schulter.
Noriko schüttelte nur den Kopf und lief zu ihrem Platz in der zweiten Reihe.
„Ach Noriko, das ist doch unvernünftig“, versuchte Ayumi es noch einmal.
Noriko seufzte. „Nein … es geht schon“, wehrte sie leise ab. „Ich darf in Physik und Englisch auf keinen Fall fehlen …“ Allein der Gedanke an diese beiden Fächer ließen sie sich noch schlechter fühlen als ohnehin schon. Aber es kommt nicht in die Tüte, dass ich mich von diesem … diesem … Vampir … in die Knie zwingen lasse, setzte sie in Gedanken etwas kämpferischer hinzu.
Erleichtert bemerkte sie, dass sie ihre Freundinnen überzeugt zu haben schien.
Als der Unterricht jedoch begann, stellte Noriko schnell fest, dass sie sich kein Stück konzentrieren konnte. Wie sollte sie auch auf die englische Grammatik achten, während die Wunden an ihrem Hals und ihrem Handgelenk unangenehm brannten und juckten? Wie sollte sie Sätze in indirekter Rede verfassen, während sie permanent an Kou denken musste, an seinen gierigen Blick, die spitzen Reißzähne, sein leises, diabolisches Lachen?
Für einen kurzen Moment musste Noriko daran denken, dass er sowohl davor als auch danach immer freundlich zu ihr gewesen war … aber nein, das wog seine grobe Behandlung nicht im Geringsten auf. Er hatte sie manipuliert, von Anfang an, er hatte sie vorsätzlich in eine Falle gelockt … und eben das war der springende Punkt. Er hatte ihr Vertrauen missbraucht.
Als sie nach dem Englischunterricht und einer kurzen Pause in einen der Fachräume für Physik wechselten, kamen ihnen im Gang vier ältere Schüler entgegen – und Noriko glaubte für einen Augenblick, dass ihr Herz stehenbleiben müsse vor Schreck.
Es schien, als liefe die Zeit für einen winzigen Moment langsamer, als Ruki, Kou, Yuma und ein weiterer, dunkelhaariger Junge an ihr vorbeiliefen. Unwillkürlich sah sie zu ihnen hin, als würde ihr Blick von ihnen angezogen, und während Yuma und Ruki ihr einen beinahe argwöhnischen Blick zuwarfen und der kleinste unter ihnen sie fragend musterte, blitzte in Kous Gesicht eine Reihe makellos weißer Zähne auf, als er sie triumphierend angrinste.
Gegen ihren Willen blieb Noriko stehen und wandte sich zu den vier Jungen um, doch diese gingen einfach weiter, als sei nichts gewesen. Kurz darauf bogen sie um eine Ecke.
Ayumi und Keiko jedoch hatten ebenfalls innegehalten und tauschten nun vielsagende, entgeisterte Blicke. „Er hat uns angelächelt!“, quietschte Ayumi dann mit einem Mal so hoch, dass es in Norikos Ohren schmerzhaft klingelte.
Unglücklich ließ sie den Blick sinken und ihre Hand krallte sich noch mehr in den Trageriemen ihrer Schultasche. Gelächelt also, ja?, dachte sie betrübt. Alles, was sie in diesem Sekundenbruchteil gesehen hatte, waren die gefletschten Zähne eines blutrünstigen Raubtiers gewesen …
In Physik erging es Noriko genauso wie in Englisch. Vor allem nach dieser kurzen Begegnung, und mochte sie nicht einmal zwei Sekunden angedauert haben, konnte sie sich doch nicht mehr auf etwas so Komplexes wie die Relativitätstheorie konzentrieren …
Nein, sie ging nur immer und immer wieder in Gedanken dieses Szenario durch, immer und immer wieder, und sie konnte nichts dagegen tun. Es ließ sie einfach nicht los.
Die Stunde endete, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort ihres Lehrers verstanden oder überhaupt mitbekommen hatte. Die Pausenglocke läutete.
Nur noch Geschichte, dachte Noriko sich erleichtert. Dann habe ich es geschafft …
Als die Schulglocke zum letzten Mal an diesem Tag ging, nahm Noriko zur Abwechslung denselben Ausgang wie ihre Freundinnen – sehr zu deren Verwunderung –, und dann machte sie zur Sicherheit einen kleinen Umweg zur Bushaltestelle.
Sie erstarrte jedoch, als sie plötzlich im Halbdunkel, das nur durch die Straßenlaternen ein wenig zurückgedrängt wurde, plötzlich eine Gestalt am Straßenrand stehen sah.
Nein, bitte nicht, dachte Noriko und beschleunigte ihre Schritte. Das kann doch nicht sein …
Aber entgegen aller Wahrscheinlichkeiten blickten ihr kurz darauf tatsächlich zwei eisblaue Augen, von ein paar lockeren, blonden Haarsträhnen beschattet, entgegen. „Noriko-chan“, sagte Kou und seine Stimme klang ungewöhnlich dunkel, sein Blick war ernst.
Noriko, die mit heftig klopfendem Herzen stehengeblieben war, umfasste den Riemen ihrer Tasche fester. „Was willst du?“, fragte sie dann geradeheraus und versuchte, ihre Stimme möglichst fest klingen zu lassen, doch vermutlich gelang es ihr nicht.
Und natürlich überging er ihre Frage einfach. „Gehst du mir etwa aus dem Weg, Noriko-chan?“, fragte der Blonde und Noriko konnte deutlich den Groll in seiner Stimme hören.
Sie schluckte. Was sollte sie darauf nur antworten? Gab es überhaupt eine richtige Antwort? Vermutlich nicht … Aber gut, wenn er ihr keine Antwort gab, warum sollte sie ihm dann eine schuldig sein? Kurzentschlossen nahm sie all ihren Mut zusammen und stapfte wortlos an Kou vorbei. Eigentlich rechnete sie damit, dass er ihr Handgelenk packen und sie festhalten würde, doch nichts dergleichen geschah.
Es war nur seine Stimme, die sie verfolgte. „Du kannst nicht davonlaufen, Noriko-chan!“, rief er ihr plötzlich wieder so schrecklich fröhlich hinter her. „Vergiss das nicht! Du gehörst mir!“

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Sooo ... ich gebe zu, viel ist nicht passiert, aber man muss ja auch mal ein paar (vermutlich sehr verstrickte) Gedanken anbringen. Wer's noch nicht gemerkt hat - das mach' ich ziemlich gerne und eigentlich viel zu viel xD
Und natürlich fordere ich auch meine sechs verbleibenden Favorisierer sowie alle neu dazugekommen unverbindlich auf, mir eine Rückmeldung dazulassen ;D ... Das klang jetzt irgendwie trotz "unverbindlich" wie ein Befehl ... sollte es gar nicht ... >.< Egal, ich lass' es jetzt trotzdem stehen :P Ich wünsche euch allen einen schönen Start ins dritte Adventwochenende :)

Sedutive ScentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt