Expanded Chapter: "Ich hatte es schlimmer"

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"Ich hatte es schlimmer!"

Das kennen wir wohl alle, oder? Egal wie schlimm du es hast, es gibt immer jemanden der dir erzählt, dass er es schlimmer hatte. Wenn du also jemandem erzählst, dass du schon einmal beide Beine zur gleichen Zeit gebrochen hattest und auf den Rollstuhl angewiesen warst, gibt es immer jemanden der dir erzählt, dass er schon einmal beide Beine verloren hat, und durch die Gegend getragen werden musste. Das ist dann die Sorte von Menschen, bei denen alles immer glatt läuft, und die es nicht nachvollziehen können, dass ein Mensch auch einknicken kann. Aber auch dazu kann ich noch einen Tipp abgeben. Nachdem der Hauptteil dieser Shortstory veröffentlicht wurde, habe ich einen Kommentar bekommen, in dem diese Person sagte, ich sei nicht der „King" und wüsste nicht alles; ich sollte mich nicht so aufspielen. Spannend dazu ist aber zu wissen, dass genau diese Person ähnliches, nicht im gleichen Maße, aber ähnliches durchlebt hat. Ich wäre auch ein Unmensch, wenn ich sage, dass ich der Experte bin, wenn's um Depressionen geht. Mittlerweile wissen wir ja, dass auch Ärzte beziehungsweise „Experten" bei jedem kleinen Trauerschub Depressionen, oder eine andere psychische Krankheit diagnostizieren. Aber dazu später mehr. Mein Tipp ist, wenn man einen Menschen im Umfeld hat, der sich selber aufgibt, aufweist das Leben baldmöglichst zu verlassen, dann unterstützt ihr ihn am besten mit eurer puren Anwesenheit. Es muss gar nicht immer eine Konversation entstehen. Ständig zu fragen wie es ihm geht, und dann angepisst sein, wenn die Person nicht drüber reden möchte, hilft keinem. Es gibt einfach Momente, in denen es nicht passend ist zu sprechen. Und das kann durch Akzeptanz auch ganz einfach unterstützt werden. Voraussetzung ist natürlich, dass diese Person Menschen hat, mit denen sie reden kann, falls es das Bedürfnis zu befriedigen gilt. Wie ihr ja schon gelesen habt, gab es so viele verschiedene Charaktere, die mit mir zusammen auf der Tanzfläche gestanden haben. Natürlich waren das nicht alle, aber die, ohne die die Story nicht aufgehen würde. Manche der, nicht erwähnten, Nebencharaktere wussten überhaupt nicht was sie mit mir anfangen sollten. Wenn ich da jetzt so drauf zurückblicke, finde ich das total interessant, denn ich erinnere mich an überforderte und ratlose Menschen, wenn es darum ging, wie's mir geht. Unter denen waren dann halt auch die, die einfach nie die Grenze gesehen haben und einfach immer weiter geredet haben. Das hilft niemandem. Jedenfalls ist das meine Erfahrung. Ich könnte mir aber schon vorstellen, dass es keinem hilft aufs brutalste vollgetextet zu werden.

Schwingen wir uns noch einmal zurück zu der Aussage, dass Ärzte und Experten mir nichts dir nichts Depressionen diagnostizieren und sie als Ausrede benennen. Ich war vor längerer Zeit, auf Treiben meiner besten Freundin beim Arzt, weil ich immer wieder stechende und vor allem komische Schmerzen im Herzen hatte (die habe ich heute auch noch). Mein Arzt sagte zu mir, dass würde mit meinen Depressionen zusammenhängen, kann man nichts machen, das geht wieder weg. Das Einzige was er festgestellt hat, dass mein Herz vielleicht ein bisschen langsamer schlägt als es soll, aber nichts worum man sich sorgen müsse. Das ist übrigens der gleiche Arzt, der mich, ich schwöre bei meinem Leben, wegen Hässlichkeit drei Tage krankgeschrieben hat. Ich bin allerdings noch genau so hässlich wie vorher, also versteh ich nicht, warum nur drei Tage. Naja, egal. Kürzlich schrieb mich eine Freundin an, und befragte mich zu einem Thema was sie interessierte, und aus diesem Gespräch ging auch hervor, dass sie exakt die gleichen Herzschmerzen, zu den gleichen Gelegenheiten hat wie ich. Ihre Diagnose: Thorakalsyndrom. Soweit ich das verstanden habe, ist das irgendwas was von der Brustwirbelsäule aus geht. Clue: Sie ist nicht mit Depressionen diagnostiziert, hat aber genau das Gleiche wie ich. Fragt man sich jetzt halt schon ein bisschen, woran hat's gelegen. Man fragt sich natürlich immer, woran's gelegen hat.

Meiner Meinung nach werden Depressionen heute nicht mehr so ernst genommen, denn gefühlt jeder zweite, der nur mal kurz an seinen eigenen Tod denkt, oder eine längere Phase hat, in der er nicht gut drauf ist, behauptet von sich, er hätte Depressionen. Das mag jetzt eine total oberflächliche Wertung sein, aber wie können wir Menschen mit Depressionen helfen, bei denen man sich fragt, ob das nicht gefaked ist. Natürlich ist jedes einzelne Problem eines jedes Menschen ernst zu nehmen. Denn durch nicht behandelte Probleme wird es doch meist nur noch schlimmer. Natürlich kann so etwas schnell vorbei sein. Aber es geht nicht immer gut aus. Erfahrungsgemäß sind es die kleinen Dinge die uns zerreißen, und langsam aber sicher in den Tod reißen können. KÖNNEN! Es muss ja nicht immer worst case sein. Es gibt auch genug Menschen die nicht in den Tod gegangen sind. Mag sein, dass ich ein Beispiel dafür bin, aber wie schon erläutert, bin ich nicht der King und ich weiß nicht alles. Auch wenn ich diese Aussage unfassbar dumm und alles andere als intelligent finde, sei zu erwähnen, dass dieser Satz schon etwas Wahres an sich hat. Auch wenn ich bestimmt noch viele weitere Jahre damit leben werde, werde ich niemals jemand sein, der sich auskennt. Ich kann nur von meinen Erfahrungen sprechen, und auf denen basierend handeln. Wir sollten nicht wegschauen. Wir sollten unsere Augen offen halten, und unsere Hand denen reichen, die sie brauchen. Ist es nicht ein wunderschönes Gefühl, zu wissen, man hat etwas Gutes getan? Michelle sagte neulich noch zu mir, dass es ein sehr schönes Gefühl ist, ein Lächeln auszulösen. Ich kann ihr da nur zustimmen. Es ist auch einfach völlig egal, ob man diese Person nun kennt oder nicht. Ich habe zum Beispiel eine unendlich schöne Begegnung im sozialen Netzwerk „Instagram" gehabt. Kommunikation findet ja mittlerweile nur noch über solche Netzwerke statt, und da Instagram mein Lieblingsnetzwerk ist, bin ich da logischerweise auch viel unterwegs. Ich habe mir, durch eine Werbung die in meinem News Feed geschaltet war, einen Ring bestellt, der zur Wahrnehmung von Suizid dient. Als der ankam, habe ich natürlich mit Stolz ein Bild von diesem Ring gepostet, und bin einem Hashtag gefolgt, und so auf ein Profil gestoßen, wo ich ein Bild gesehen habe, mit genau dem gleichen Ring. Piper, ein junges Mädchen, dass öffentlich darlegt was sie erlebt hat und nicht nur mit Gedanken vom Tod zu kämpfen hat, sondern auch stolz und überzeugt lesbisch ist, was ihr auch nicht wirklich viel Sympathie einfängt. Jedenfalls entnehme ich das ihren Posts in ihrer Story. Allein schon weil es mich interessierte von jemand anderem zu hören bzw. zu lesen, las ich mir am selben Abend noch ihre Geschichte durch und war den Tränen unterlegen. Sie war auch letztendlich der letzte Grund, warum ich angefangen habe, meine Gedanken für dieses Werk zusammenzusammeln. Natürlich kam mir die Idee hauptsächlich, als ich den Walzer geschrieben habe, aber Piper, mit ihren nur dreizehn Jahren, darf hier nicht ausgelassen werden. Ich bewundere sie für ihren Lebenswillen, den ich nicht hatte und nicht habe. Und ich bewundere ihre Offenheit gegenüber ihrer Sexualität, was heutzutage eigentlich nicht nötig sein sollte. Ich möchte an dieser Stelle loswerden, dass ich auch einfach unglaublich stolz bin, dass wir unsere Geschichte teilen können, dass wir nicht aufgegeben haben, als der Zeitpunkt da war. Auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen, wir aus verschiedenen Ländern kommen und unsere Herzen nicht im gleichen Takt schlagen, wenn wir nach oben schauen, ist dort die Sonne. Das Licht, welchem wir folgen. Es ist beunruhigend zu wissen, wie viele Menschen nicht mehr darüber sprechen können, die ihre Geschichte nicht mehr teilen können. Erschreckend in der Annahme zu sein, dass, während ich das hier schreibe, wahrscheinlich irgendwo auf der Welt ein Mensch gnadenlos verzweifelt. Wir sollten nicht wegschauen!

Mein Ziel ist es, eines Tages die Welt von oben zu beobachten. Da kann mich auch keiner mehr von abbringen. Das ist das Einzige, was mich am Leben hält: Die Hoffnung, dass es nicht mehr lange geht. Selbstmord ist keine Option mehr. Doch wenn es heute Abend, morgen früh oder wann auch immer vorbei sein sollte, dann ist es der bessere Weg. Fragt man sich, wie komme ich auf so eine zum Schreien dämliche Idee? So dämlich ist das gar nicht. Ich habe mir etwas gesucht, wofür es sich lohnt zu leben. Dipsy hat vor ein paar Tagen im Unterricht einfach meine Hand gehalten und gestreichelt und damit einfach einen wunderschönen Moment gestaltet. Ich lebe für sie. Fynnman nimmt mich morgens, wenn ich zur Schule komme, immer in den Arm. Ich lebe für ihn. Kathi sagte kürzlich zu mir: „Lass uns alles dafür tun, dass wir glücklich sind und ein schönes Leben haben, okey?" – ich lebe für sie. Christa ist vor Freude total ausgeflippt, als sie gelesen hat, dass sie Teil dieser Geschichte ist. Ich lebe für sie. Jule sagte heute noch zu mir, dass sie froh ist, dass wir uns kennen. Ich lebe für sie. Amanda reagierte auf mein Geschriebenes damit, dass sie mir sagte, gerade sei ich einer ihrer Helden. Ich lebe für sie. Ihr versteht das Prinzip. Neben all den großartigen Menschen, für die ich lebe, gibt es trotzdem etwas, wofür ich wirklich lebe. Ich lebe für den Tod. Früher oder später kommt er eh. Das heißt also für mich, nichts auf morgen zu verschieben, denn dann könnte es schon zu spät sein. Und ganz besonders unterstreichen möchte ich, dass mich dieses Gefühl unglaublich stark, fröhlich und glücklich macht. Es ist einfach unglaublich schön zu wissen, da ist was, was auf jeden Fall kommt. Jeder Tag ist eine weitere Qual. <- Das war meine Auffassung bevor meine Reise begann. Nun würde ich diesen Satz folgendermaßen korrigieren: Jeder Tag ist ein weiteres Geschenk!

The Waltz Of The Heroes - Mein Leben mit DepressionenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt