Jetzt- am Ende- war es der perfekte Moment, noch einmal daran zu denken, wie es angefangen hatte.
Vor nicht einmal allzu langer Zeit war sie noch ein kleiner Traum- winzig, unbedeutend, machtlos, in der großen weiten Welt.
Aber wer wollte schon so klein bleiben?
Sie hatte mehr gewollt, viel mehr, aber wie brachte sie Leute dazu, sie zu träumen?
Der kleine Traum dachte und dachte, Tag ein Tag aus, bis sie eine Idee hatte.
»Ich lasse die Leute einfach meine eigene Welt kreieren.«
Ich klappte das Buch zu.
»Ich verstehe immer noch nicht, wie du dir dieses Märchen so oft antun kannst- vor allem, wenn ich es dir vorlese«, seufzte ich, legte das Buch in meinen Händen auf die Bettdecke und schaute den jungen Mann vor mir an.
»Es ist doch total faszinierend«, antwortete Henry, und ich konnte beobachten, wie seine blauen Augen zu funkeln begannen. »Du kannst deine eigene Welt erschaffen!«
»Wenn du meinst«, lächelte ich sanft und lehnte meinen Kopf an die Wand hinter mir.
Henry sah so aus, als wollte er noch mehr erzählen, allerdings hielt ihn ein Hustenanfall davon ab.
»Reg dich nicht zu sehr auf«, kommentierte ich seinen Zustand und legte meine Hand auf seine Stirn.
Sie war zu warm.
»Glaubst du, ich werde wieder gesund?«
Ich hielt kurz inne.
»Was für eine dämliche Frage.«
Natürlich wurde er wieder gesund- etwas Anderes kam gar nicht infrage.
Zumindest versuchte ich, mir das einzureden.
Henry litt bereits seit einigen Wochen, wenn nicht sogar schon Monaten, an einer seltsamen Krankheit.
Nicht einmal die besten Ärzte Londons (und Umgebung) konnten etwas mit seinem Zustand anfangen, und die Tatsache, dass es Henry immer mieser ging, machte die Situation auch nicht besser.
Ich schloss die Augen, genoss die Stille zwischen Henry und mir, welche nur durch das leise Prasseln der Regentropfen am Fenster und das gelegentliche Husten Henrys unterbrochen wurde.
Nur, was würde ich machen, wenn Henry nicht wieder gesund werden würde?
Was, wenn er stirbt?
»Machst du dir Sorgen?«
»Nur darüber, was Haley mir nachher vorsetzt.»
Henry lachte, was mein Lächeln größer werden ließ.
»Übernimmt Hannah nicht das Kochen?«
»Hannah wollte mich dafür bestrafen, dass ich schon wieder meine Geschichtsstunden schwänze.«
Henry lachte erneut, worauf er kurz hustete- dann wurde er auf seltsame Art und Weise leise und starrte vor sich hin.
»Nathan?«
»Ja?«
»Liebst du mich?«
»Natürlich«, erwiderte ich und fuhr durch seine roten Locken, »wir sind doch Freunde.«
Henry nickte langsam, griff zu dem Buch und legte es mir wieder hin.
»Nochmal lese ich es nic-«
»Nein, ich möchte, dass du es mitnimmst.«
»Wozu? Ich kenne das Märchen schon.«
»Du kannst es ja Haley zum Lesen geben.«
»Meinetwegen«, gab ich nach und nahm das Buch erneut entgegen.
Ein Klopfen an der Türe ließ uns beide aufschauen.
»Ja?«, kam es von mir und die Türe wurde geöffnet.
»Mylord, es wird Zeit, zum Anwesen zurückzukehren. Es wartet noch Arbeit auf Sie.«
Ich seufzte.
»Ja, Hannah«, antwortete ich einer meiner Dienstmägde und erhob mich, das Buch in den Händen haltend.
»Wir sehen uns übermorgen wieder, ja?«, fragte Henry und ich nickte.
»Und werde ja gesund«, fügte ich hinzu, folgte Hannah nach draußen und ließ Henry in seinem Zimmer zurück.
Draußen auf dem Flur schloss sich Hannah und mir meine zweite Dienstmagd- Haley- an und schenkte mir ein besorgtes Lächeln.
»Wie geht es Earl Jones?«, fragte Haley und versuchte, mit ihrer Schwester und mir Schritt zu halten.
Ich warf einen Blick zu meiner rechten Seite.
Haleys blonder Zopf wippte hin und her.
»Schlecht, nehme ich an. Du musst dir nur Mylords Gesicht ansehen«, antwortete Hannah und ich sah zu meiner Linken.
Im Gegensatz zu ihrer jüngeren Zwillingsschwester wippten Hannahs blonde Haare kaum- dafür ging sie zu straff.
»Ich befürchte, sein Zustand hat sich noch weiter verschlechtert.«
»Er wird bestimmt gesund, Mylord«, war Haleys Versuch, mich aufzumuntern.
Ich reagierte nicht.
Mittlerweile waren wir vor der Eingangstüre angekommen, und ich ließ mir von Haley meine Jacke anlegen, während Hannah mir bereits einen Regenschirm über den Kopf hielt.
Dann machte sie mir die Türe auf, begleiteten mich zur Kutsche und stiegen mit ein.
»Mylord, was ist das für ein Buch?«
Ich starrte auf den dunkelblauen Einband.
»Das Traumland«, flüsterte ich den Titel des Märchens und sah zu Haley auf. »Es ist Henrys liebstes Buch, und er hatte mir vorgeschlagen, es mitzunehmen. Ich empfehle dir, es zu lesen, Haley.«
»Vielen Dank, Mylord«, meinte sie hastig.
»Wenn dafür Zeit ist«, kam es streng von Hannah und sie warf ihrer Schwester einen strafenden Blick zu. »Mylord hat morgen eine Verabredung mit Countess Moore.«
Mehr Zeit für Dinge, die ich mochte, wäre wirklich wünschenswert.
»Seine Verlobte?«
»Ja«, antwortete Hannah trocken.
»Nein«, antwortete ich ermüdet. »Die Verlobung steht noch nicht fest. Es ist lediglich etwas, was meine Eltern planen.«
»Es wird allerdings auch Zeit, Mylord. Sie sind bereits erwachsen und heiratsfähig, ihrer Familie wird es gut tun.«
Ich schwieg.
Es war besser, Hannah in diesem Punkt nicht zu widersprechen.
Ich stützte meinen Kopf mit meiner rechten Hand ab, starrte kurz aus dem Fenster, dann wieder auf das Buch auf meinem Schoß.
Ich hatte eh nichts Besseres zu tun.
Mit einem Seufzen setzte ich mich aufrecht hin und schlug die erste Seite des Buches auf.
»Stell dir vor, eine unvergessliche Reise in ein traumhaftes Land...«
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Paint it Black
פנטזיה»Hast du dir jemals gewünscht, deine eigene Welt zu schaffen? Ein Ort, an dem all deine Träume wahr werden? Wo du leben kannst, wie du willst? Wo alles möglich ist?« Eine Welt, in dem all deine Wünsche wahr werden- doch zu welchem Preis?