Kapitel 2 - Vince

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„Guten Morgen!", rief eine überschwängliche Stimme.

Vince murrte und zog sich die Decke über den Kopf, aber das kümmerte Nina absolut nicht. Er hörte sie in seinem Hotelzimmer herumlaufen und reden. „Guten Mittag, eigentlich", fuhr sie fort, ohne auf eine Antwort zu warten. „Wurde es noch spät, gestern? Vermutlich. Hoffentlich hast du dich nicht betrunken. Jedenfalls hab ich Kaffee für dich, und was zum Frühstücken. Du müsstest dafür allerdings vorher unter die Dusche, wir müssen ein Flugzeug erwischen und dann ist heute Abend dieses - what the fuck?!"

Vince war blinzelnd aus seiner Decke aufgetaucht, als sie die Vorhänge geöffnet hatte. Mit schmalen Augen starrte er zu seiner Agentin hinüber, die seinen Blick vollkommen geschockt erwiderte. Dabei konnte er so furchtbar gar nicht aussehen, er hatte nur ein Bier getrunken. Und immerhin ungefähr fünf Stunden Schlaf bekommen, auch wenn der unruhig gewesen war.

„Was zur Hölle ist das, Vince?"

„Was denn?", fragte er verschlafen.

Nina kam die paar Schritte zum Bett und zeigte auf seinen Hals. „Das. Seit wann ist das da? Was hast du angestellt?"

Vince schaute vollkommen ahnungslos zu ihr hoch. „Wovon redest du bitte?"

Sie versuchte etwas zu erwidern, fand aber die Worte nicht. „Spiegel", sagte sie am Ende bloß und setzte sich seufzend ans Fußende seines Bettes. Angenervt strampelte Vince sich aus der Decke und stolperte nach nebenan ins Badezimmer. Und plötzlich konnte er Ninas Schock absolut nachvollziehen.

An seinem Hals war ein Tattoo aufgetaucht. Es sah aus wie ein Kreis, der mit lauter kleineren Kreisen gefüllt war. Er berührte sachte die lila Farbe, vollkommen fasziniert. Sein Herz klopfte wie verrückt. Endlich war es passiert! Sein ganzes Leben lang hatte er zuschauen müssen wie bei seinen Freunden und seiner Familie, bei seinen Kollegen und Mitarbeitern neue Tattoos auftauchten, hatte sich Geschichten über Tattoos angehört und selber nie etwas beigetragen. Die Liebe hatte bisher einen riesengroßen Bogen um ihn gemacht. Und ganz plötzlich hatte sich das geändert. Dieses Tattoo bedeutete, dass er es geschafft hatte, sich in jemanden zu verlieben.

Und es war ihm absolut und unmissverständlich klar, in wen.

Der Junge mit der grauen Mütze, dem fehlenden Bein und dem Rollstuhl hatte ihn innerhalb von zwei Minuten verzaubert. Vince hatte noch niemals etwas Vergleichbares erlebt. Es war, als hätte das Universum kurz innegehalten, um ihm ein paar Fragen zu beantworten, die er sich seit Jahren stellte.

Ein Junge.

Das wusste er jetzt.

Nina stand professionellerweise bereits in den Startlöchern, als er aus dem Bad kam, die Hand immer noch an seinem Hals.

„Was willst du jetzt tun?", fragte sie sofort.

„Ich weiß nicht", sagte er, seine Stimme ganz fremd in seinen Ohren.

„Hör zu, Vince, seit fünf Jahren verkaufe ich dich als den Kerl, der von der Liebe vergessen worden ist. Du bist nicht dumm, du weißt, dass du deinen Erfolg auch dem Ruf zu verdanken hast, den wir dir aufgebaut haben."

Er nickte. Ja, das wusste er. Aber konnte man sich nicht weiterentwickeln? Er hatte immer geglaubt, es würden niemals Tattoos auf seiner Haut auftauchen, dass sein Leben eben einsam sein würde und ohne Liebe. Vince war noch nie so froh gewesen, sich geirrt zu haben.

„Willst du es wieder loswerden?"

„Nein!", rief Vince sofort viel zu laut. „Auf keinen Fall."

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