Es dauerte etwas mehr als eine Woche, bis Vince Flo wieder besuchen konnte. Dazwischen verlangte Nina nach seiner Aufmerksamkeit, weil Vince ihrer Meinung nach nicht einfach so von der Bildfläche verschwinden durfte. Sie hatte ja recht. Er hatte alle seine Pflichten vernachlässigt, keine Termine bestätigt und noch nicht mal angefangen, über das neue Album nachzudenken, an dem er eigentlich arbeiten sollte. Aber es hatte sich nun mal alles auf einen Schlag für ihn geändert und jetzt sofort Songs darüber zu schreiben, hätte nicht funktioniert. Er musste sich erst an alles gewöhnen, vor allem daran, wie schnell Flo ein Teil seines Lebens geworden war.
Flo selber sah das vielleicht ganz anders. Es war absolut möglich, dass Flo Vince nur um sich haben wollte, weil er ein Fan von ihm war. Das wollte Vince zwar nicht wahrhaben, aber der Gedanke hielt sich hartnäckig in seinem Hinterkopf. Nach allem, was Vince wusste, war Flo nicht in ihn verliebt. Das war okay. Es musste okay sein. Man konnte niemanden zwingen oder irgendwie anders dazu bringen, sich zu verlieben. Vince erinnerte sich regelmäßig daran, deswegen nicht betrübt zu sein. Er war in Flo verliebt und nichts anderes zählte. Leider hatte er nur das Gefühl, vielleicht noch ein bisschen lieber Zeit mit Flo zu verbringen, wenn er Vince' Gefühle erwidern würde. Dafür schämte Vince sich dann jedes Mal. Flo ließ es zu, dass Vince ihn besuchte, ihm Blumen schenkte und jeden Abend vor dem Einschlafen eine Nachricht schickte. Was wollte Vince denn mehr? Ausschweifende Liebeserklärungen in einem Heißluftballon bei Sonnenuntergang?
Irgendwie schon. Ja, irgendwie war das genau das, was er wollte. Er würde das nicht kriegen und das wusste er und fand es zutiefst traurig. Vielleicht sollte er doch mal langsam anfangen, Songs zu schreiben. Gerade erschloss sich für ihn das unendliche Feld der Lyrik über unerwiderte Liebe. Er würde noch zum Petrarkismus mutieren, wenn er nicht vorsichtig war.
Als Vince bei seinem nächsten Besuch Flos und Naomis Zimmer betrat, war er allerdings bester Laune, wie immer, wenn es darum ging, Flo endlich wieder zu Gesicht zu bekommen. Flo war aber gar nicht da und nur Naomi lümmelte auf ihrem Bett, den Laptop auf dem Schoß.
„Hi, Vince", begrüßte sie ihn. „Wie geht's?"
„Gut. Ich hab dir Schokolade mitgebracht." Er zog eine Pralinenpackung aus der Innentasche seiner Jacke und reichte sie ihr.
„Wow, danke!" Sie betrachtete eingehend die Schachtel, ehe sie ihn wieder anschaute, ein schiefes Lächeln auf den Lippen und Schalk in den Augen. Sie hielt ihn absichtlich hin. „Du möchtest vermutlich zu Flo?"
Er legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen hoch.
„Okay, okay." Sie lachte. „Er ist vermutlich auf dem Dach. Aber sei gewarnt, es ist irgendwas im Busch."
Vince hatte sich bereits umgedreht und hielt jetzt mitten in der Bewegung inne. „Was meinst du damit?"
Naomi hob die Schultern. „Er hatte heute irgendeinen Termin. Danach ist er hier reingerauscht, hat sich seine Kamera geschnappt, 'Dach' gesagt und ist abgehauen. Das war vor zwei Stunden oder so."
Er hatte gar nicht vorgehabt, vorwurfsvoll zu klingen. „Und du bist ihm nicht hinterher?"
Naomi schüttelte den Kopf. „Wenn wir aufs Dach gehen, wollen wir unsere Ruhe. Das muss man dann eben respektieren. Aber für dich macht er bestimmt eine Ausnahme."
Vince überlegte eine Sekunde, dann verabschiedete er sich von Naomi und ging eilig zurück zu den Fahrstühlen.
Flo saß auf einem Tisch mit dem Rücken zum Gebäude und fotografierte die Wolken. Vince beobachtete ihn eine Minute lang dabei, bevor er näherkam und sich räusperte. Ein Lächeln huschte über Flos Gesicht, als er Vince bemerkte, dann hob er wieder die Kamera ans Gesicht und schaute durch den Sucher in den Himmel. Vince setzte sich auf den Stuhl neben Flo und sah ihm dabei zu.
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First & Last
RomanceJeder Mensch wird mit einem einzigartigen Tattoo geboren. Wenn du dich in jemanden verliebst, erscheint sein Tattoo auf deinem Körper - wahre Liebe, hinterlässt immer eine Spur. Flo: Ein Junge mit nur einem Bein, dafür einem großen Herzen, der viel...